Am Ende war die Tat
was wir hier im Lernzentrum für Toby tun können, ist begrenzt. Und wenn wir an diese Grenzen stoßen, müssen wir überlegen, was als Nächstes zu tun ist.«
Alarmglocken schrillten in Joels Kopf. »Woll'n Sie sagen, Sie könn' Toby nich' helfen oder so? Er soll nich' mehr herkomm'?«
»Nein, nein«, widersprach sie eilig. »Aber ich möchte einen Plan für ihn aufstellen, und das können wir nicht ohne weiterreichende Untersuchungen. Nennen wir es ... also, nennen wir es: eine Studie von Toby erstellen. Und daran müssen alle beteiligt sein. Tobys Lehrer an der Middle Row School, die Mitarbeiter hier im Lernzentrum, ein Arzt und eure Eltern. In den Akten habe ich gesehen, dass euer Vater verstorben ist, aber wir möchten unbedingt ein Gespräch mit eurer Mutter führen. Ich gebe dir diese Unterlagen für sie mit und dann ...«
»Geht nich'.« Mehr brachte Joel nicht heraus. Die Vorstellung von seiner Mutter, hier in diesem Büro, mit dieser Frau, war einfach zu viel für ihn, selbst wenn er wusste, dass es dazu nie kommen würde. Man würde sie niemals allein aus der Klinik lassen, und selbst wenn Joel sie von dort abholen könnte, würde sie es in Gegenwart von Luce Chinaka keine fünf Minuten aushalten, ehe sie auseinanderbrach.
Luce sah von den Unterlagen auf. Sie schien sein »Geht nicht« zu allem ins Verhältnis zu setzen, was sie bislang über die Familie wusste. Das war nicht besonders viel - dafür hatte die Familie selbst gesorgt. »Kann deine Mutter nicht lesen?«, fragte sie. »Das tut mir leid. Ich habe angenommen, weil ihr Name auf den Formularen steht ...« Luce schaute genauer hin und betrachtete, was, so wusste Joel, das hastige Gekritzel seiner Tante sein musste.
»Das is' ... Das ist Tante Kendras Handschrift.«
»Ah, verstehe. Kendra Osborne ist also eure Tante, nicht eure Mutter? Hat sie das Sorgerecht für euch?«
Joel nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
»Ist eure Mutter denn auch verstorben, Joel? Meintest du das, als du sagtest, sie könne das hier nicht ...«
Er schüttelte den Kopf. Aber weder konnte noch wollte er ihr von seiner Mutter erzählen. Die Wahrheit war, dass Carole Campbell so gut lesen konnte wie jeder andere. Die Wahrheit war aber auch, dass es völlig unerheblich war, ob sie lesen konnte oder nicht.
Er streckte die Hand nach den Unterlagen aus »Ich kann es lesen. Ich kümmere mich um Toby«, brachte er heraus - näher konnte er der Wahrheit nicht kommen.
»Aber hier geht es nicht um ...« Luce suchte nach einem anderen Erklärungsansatz. »Hör zu, mein Junge: Es muss eine Untersuchung durchgeführt werden, und nur ein sorgeberechtigter Erwachsener kann dazu die Genehmigung erteilen. Verstehst du? Wir müssen Toby ziemlich ... gründlich untersuchen, und das muss von einem ...«
»Ich hab doch gesagt, ich mach das!«, rief Joel. Er ergriff die Papiere und drückte sie an die Brust. »Aber Joel ...« »Ich kann das!«
Luce Chinaka sah ihm mit einer Mischung aus Verwirrung und Erstaunen nach, als er zu seinem kleinen Bruder nach draußen stürmte. Dann griff sie zum Telefon.
13
Als Ness sich an jenem Tag an der Paddington Station von ihren Brüdern trennte, verließ sie den Bahnhof nicht sofort. Vielmehr verbarg sie sich hinter einem Sandwich-Stand. Sie gab vor, sich dort nur eine Zigarette anzünden zu wollen, die sie Kendra stibitzt hatte, doch während sie ihre Tasche nach Streichhölzern durchforstete, linste sie immer wieder um die Ecke zum Zeitschriftenladen. Obwohl das Geschäft voller Menschen war, hatte sie keine Mühe, Joel zu entdecken. Pflichtschuldig steuerte er auf die Zeitschriftenständer zu, wie üblich mit herabhängenden Schultern. Toby folgte ihm wie immer dicht auf den Fersen.
Ness wartete, bis Joel sich in die Kassenschlange eingereiht hatte, bevor sie ihrer Wege zog. Sie konnte nicht erkennen, was er aus dem großen Zeitschriftenangebot ausgewählt hatte, aber sie wusste, er hatte etwas Passendes für ihre Mutter genommen. So war Joel: zuverlässig und pflichtbewusst bis zuletzt. Außerdem war er in der Lage, sich und anderen vorzumachen, was immer er ihnen vormachen musste, um den Tag zu überstehen. Ness selbst hatte genug davon, sich etwas vorzumachen. Das hatte sie genau dorthin geführt, wo sie sich im Moment befand, nämlich nirgends. Sich etwas vorzumachen, änderte nichts, änderte insbesondere nichts daran, wie sie sich im Augenblick innerlich fühlte: so voll, als müsse sie zerspringen, als wolle ihr Blut
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