Am Ende war die Tat
Fahrspuren, alsowürden Neal und seine Jungs keine zehn Sekunden brauchen, das Gitter zu überspringen, auf die andere Straßenseite zu laufen und auch das diesseitige Gitter zu überwinden. Joel rannte, was das Zeug hielt, wich einer Mutter mit Kinderwagen aus, drei Frauen in Tschadors mit vollen Einkaufstüten und einem weißhaarigen Herrn, der einfach mal vorsorglich »Halt! Dieb! Hilfe!« brüllte, als Joel an ihm vorbeirauschte.
Ein hastiger Blick über die Schulter, und Joel sah, dass er fürs Erste Glück gehabt hatte. Ein Bus und zwei Lastwagen hatten sich zwischen ihn und seine Verfolger geschoben. Neal und seine Freunde waren zwar wild entschlossen, ihn zu jagen, aber nicht wild darauf, unter die Räder zu kommen. Sie warteten, bis alle drei Fahrzeuge vorübergefahren waren, ehe sie die Straße überqueren und die Verfolgung fortsetzen konnten. Joel hatte einen Vorsprung von fünfzig Metern herausgeholt, als sie endlich herüberkamen. Der Secondhandladen kam in Sicht, er stürmte hinein und japste wie ein Hund, als er die Tür hinter sich zuwarf.
Kendra war im Hinterzimmer, wo sie Plastiksäcke voll neuer Kleiderspenden sortierte. Als sie die Tür zuschlagen hörte, sah sie auf, und ihr lag schon eine scharfe Ermahnung auf der Zunge, doch dann sah sie sein Gesicht. »Was ist los, Joel? Wo ist Toby? Solltest du ihn nicht ...«
Joel brachte sie mit einem schroffen Wink zum Schweigen - einer Geste, die so untypisch für ihn war, dass Kendra verdutzt verstummte. Er schaute aus dem Fenster und entdeckte Neal, der seine Meute anführte wie ein Jagdhund bei der Hatz. Joel sah von seiner Tante zu dem Kämmerchen hinter ihr. Eine Tür führte von dort hinaus in eine Gasse.
»Joel, was ist hier los?«, verlangte Kendra zu wissen. »Was ist passiert? Wer ist das da draußen?«
»Typen«, brachte er mühsam hervor und zwängte sich an ihr vorbei. Das Atmen fiel ihm so schwer, dass er einen leichten Schwindel verspürte, und seine Brust fühlte sich an, als habe jemand ein rot glühendes Brenneisen daraufgesetzt.
Kendra trat ans Fenster, während Joel zur Hintertür hastete.
»Machen sie dir Schwierigkeiten? Das Häuflein? Die knöpf ich mir vor.« Sie legte die Hand an den Türgriff.
»Nein!«, schrie Joel. Ihm blieb keine Zeit, erst recht nicht, um seiner Tante zu erklären, dass sie alles nur noch schlimmer machen würde, wenn sie sich einmischte. Niemand knöpfte sich in einer Situation wie dieser einfach so irgendjemanden vor, und manchmal war ein Feind einfach ein Feind, ohne dass irgendwer die Gründe dafür hätte erklären können. Und Joel war Neal Wyatts erwählter Todfeind. So war es eben. Er stürzte in die Kammer, wo eine schwache Glühbirne den Weg zur Hintertür beleuchtete, und stieß sie auf. Krachend schlug sie gegen die Rückwand des Gebäudes. Er rannte die Gasse hinunter und hörte nur noch, wie Kendra hinter ihm die Tür wieder schloss.
Joel rannte vielleicht dreißig Meter weit, dann musste er erst einmal wieder zu Atem kommen. Gleichzeitig wusste er, dass es nur Augenblicke dauern würde, bis Neal herausfand, in welchen Laden er geflüchtet und wohin er anschließend verschwunden war. Joel schaute sich nach einem sicheren Versteck um. Neben einer Baustelle stand ein überfüllter Müllcontainer. Mit letzter Kraft hievte er sich dort hinein. Er musste ein paar Pappkartons und Plastiktüten hinauswerfen, aber das würden seine Verfolger kaum bemerken, so wie es in der Gasse aussah. Er duckte sich und wartete, atmete so flach, wie seine schmerzende Lunge es zuließ. Keine zwei Minuten später machte sich seine Anstrengung bezahlt. Er hörte schnelle Schritte näher kommen und dann die Stimmen:
»Dieser Scheißgelbarsch is' entwischt.«
»Quatsch, der muss hier doch irgendwo sein!«
»Die Alte müsst man sich mal vornehm'.«
»Neal, siehste was?«
»Das is' ja wohl 'n Scheißloch hier.«
»Genau richtig für Typen wie den.«
Gelächter, und dann war Neal Wyatts Stimme zu hören: »Geh'n wir. Die Schlampe versteckt ihn irgendwo. Hol'n wir sie uns.«Die Jungen entfernten sich. Joel blieb, wo er war. Unentschlos- senheit und Angst schlugen ihm auf den Magen. Er konzentrierte sich darauf, seine Innereien unter Kontrolle zu bringen, schlang die Arme um seinen Körper, zog die Knie an die Brust und lauschte mit geschlossenen Augen.
In der Ferne hörte er eine Tür schlagen - die Hintertür zum Laden. Die Jungen waren dorthin zurückgekehrt, entschlossen, Randale zu machen. Er versuchte,
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