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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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den Comic auf seinen Schoß, sah ihn jedoch nicht an. Stattdessen klebte sein Blick an Joel. Vertrauen stand ebenso in seinen Augen wie ein Flehen. Nur ein Mensch, der einen Stein anstelle eines Herzens in der Brust trug, hätte von diesem Blick unberührt bleiben können.
    Joel folgte Luce Chinaka in ein kleines Büro, das vollgestopft war mit einem Schreibtisch, einem Tisch, Stühlen, Anschlagbrettern, Flipcharts und Regalen, die ihrerseits von Notizblöcken, Büchern, Brettspielen und Heftern überquollen. Ein Messingschild, in das ihr Name eingraviert war, stand auf dem Schreibtisch gleich neben einem Foto von ihr und ihrer Familie: Luce, Arm in Arm mit einem ebenfalls groß gewachsenen, dunkelhäutigen Mann, vor ihnen aufgereiht wie die Orgelpfeifen drei niedliche Kinder.
    Luce trat hinter den Schreibtisch, nahm aber nicht Platz. Vielmehr zog sie den Stuhl hervor und stellte ihn an die Schmalseite. Sie wies Joel einen zweiten Stuhl, sodass sie sich gegenübersitzen konnten. Es war so eng in dem Kämmerchen, dass ihre Knie sich fast berührten. Luce nahm eine Akte vom Tisch und warf einen Blick hinein, als wolle sie sich der Fakten ver-sichern. Dann sagte sie: »Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Du bist Tobys Bruder ... Joel, ist das richtig?«
    Joel nickte. Er kannte nur einen Grund, warum Erwachsene Kinder an einen so offiziellen Ort wie ihr Büro beorderten, nämlich dann, wenn es Schwierigkeiten gab. Also nahm er an, dass Toby irgendetwas angestellt hatte. Er harrte der Einzelheiten.
    »Er spricht oft von dir«, fuhr Luce Chinaka fort. »Du bist sehr wichtig für ihn, aber das weißt du sicher selbst.«
    Joel durchforstete sein Hirn auf der Suche nach einer angemessenen Erwiderung, aber außer einem stummen Nicken fiel ihm nichts ein.
    Luce ergriff einen Kugelschreiber. Er war golden und schmal und passte zu ihr. Joel sah, dass vorn auf der Akte ein Formular lag, das teilweise ausgefüllt war. Luce überflog es, ehe sie wieder sprach. Dann erklärte sie Joel, was er schon wusste: Tobys Grundschule hatte die Empfehlung gegeben, Toby im Lernzentrum anzumelden, hatte es tatsächlich sogar zur Bedingung für seine Aufnahme an der Schule gemacht. »Wusstest du das, Joel?«, fragte sie. Auf sein neuerliches Nicken fuhr sie fort: »Toby hinkt seinen Altersgenossen in seiner Entwicklung ziemlich hinterher. Weißt du, welcher Art sein Problem ist?« Luce Chinakas Stimme war voller Güte, genau wie ihre Augen, die dunkelbraun waren, das eine goldgefleckt.
    »Er is' nich' blöd«, sagte Joel.
    »Nein, natürlich nicht«, versicherte Luce. »Aber er hat eine erhebliche Lernschwäche, und ... na ja, er scheint noch andere ...« Sie zögerte. Wieder schaute sie auf die Akte hinab, dieses Mal, so schien es, auf der Suche nach den richtigen Worten, um zu sagen, was ausgesprochen werden musste. »Es scheint noch andere Probleme zu geben. Unsere Aufgabe hier im Lernzentrum besteht darin herauszufinden, welcher Art diese Probleme sind und wie man Toby am besten helfen kann. Dann unterrichten wir ihn so, dass er etwas lernen kann, zusätzlich zum regulären Schulbesuch. Außerdem vermitteln wir ihm Alternativen ... nun ja, Alternativen für sein Sozialverhalten. Verstehst du mich?«
    Joel nickte. Er konzentrierte sich. Er hatte das Gefühl, dass Luce Chinaka auf etwas hinauswollte, das wichtig und schrecklich war. Er wurde argwöhnisch.
    »Toby hat vor allem Schwierigkeiten damit, Informationen zu verarbeiten und wiederzufinden. Er hat ein Sprachdefizit, verschlimmert durch etwas, das wir kognitive Dysfunktion nennen. Aber das sind nur Begriffe.« Sie vollführte eine Geste, als wolle sie die Worte wegscheuchen. »Der eigentliche Punkt ist, dass ein Sprachdefizit ein ernstes Problem ist, denn alles, was wir in der Schule lernen, hängt zuallererst von unserer Fähigkeit ab, es in Form von Sprache aufzunehmen, in Wörtern und Sätzen.«
    Joel merkte, dass die Frau versuchte, sich in einfachen Worten auszudrücken, weil er eben Tobys Bruder und nicht Tobys Vater war. Das beleidigte ihn nicht. Es hatte im Gegenteil etwas eigentümlich Tröstliches, trotz der bösen Vorahnungen, mit denen die Unterhaltung ihn erfüllte. Luce Chinaka war bestimmt eine gute Mutter. Er stellte sich vor, wie sie ihre drei Kinder abends ins Bett brachte und das Zimmer nicht verließ, ehe sie ihre Gebete gesprochen und ihren mütterlichen Kuss empfangen hatten.
    »Gut«, sagte sie. »Aber jetzt kommen wir zu unserem eigentlichen Problem. Weißt du,

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