Am Ende war die Tat
durch die Haut nach außen tröpfeln.
Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte Ness dieses Gefühl nicht anders zu beschreiben vermocht. Sie hätte nicht mit kindlicher Schlichtheit sagen können, dass sie voller Wut, Bosheit, Traurigkeit oder Freude war. Auch hätte sie es nicht komplexer ausdrücken können, etwa dass sie angefüllt sei mit einem Gefühl menschlicher Barmherzigkeit, voller Mitgefühl, voller Liebe,wie man sie für ein hilfloses Baby oder ein unschuldiges Kätzchen empfinden mochte, voll gerechten Zorns über die Ungerechtigkeiten des Lebens. Alles, was sie wusste, war: Sie war so voll, dass sie irgendetwas tun musste, um den Druck in ihrem Innern zu lindern. Dieser Druck war eine Konstante in ihrem Leben, aber seit dem Abend der Ballettvorführung hatte er gefährlich zugenommen. Die Umgebung war dort regelrecht über sie hergefallen, und Ness war unfähig gewesen zu erklären, warum sie nicht bleiben und diese Tänzer über die Bühne schweben sehen konnte.
Sie musste irgendetwas tun, das wusste sie. Sie musste rennen, sie musste einen Mülleimer umtreten, sie musste ein Baby aus einem Kinderwagen reißen und der Mutter ein Bein stellen, sie musste eine alte Dame in den Grand Union Canal stoßen und zusehen, wie sie ertrank - sie musste einen Weg finden, den Druck abzulassen. Sie verließ den Sandwich-Stand und ging in Richtung Damentoilette.
Dort hineinzugelangen kostete zwanzig Pence. Diese Tatsache erfüllte Ness mit einem so unbändigen Zorn, dass sie erst gegen das Drehkreuz trat und dann darunter durchkrabbelte - nicht weil sie das Geld nicht gehabt hätte, sondern weil es ihr unbeschreiblich unverschämt erschien, dass die Bahnhofsverwaltung überhaupt Geld von jemandem forderte, der doch nur pinkeln wollte, Herrgott noch mal. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ness schaute sich nicht einmal um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie auf Händen und Knien in den Toilettenbereich eindringen sah. Sie wollte sogar gesehen werden. Aber es beobachtete sie niemand, also ging sie hinein, benutzte die Toilette, inspizierte sich dann im Spiegel und stellte fest, dass ihr Äußeres einer Auffrischung bedurfte. Sie zog ihr Top nach unten und steckte es so tief in die Jeans, dass ihre Brüste beinahe bis zu den Brustwarzen entblößt waren. Dann betrachtete sie ihr Make-up. Ihre Haut war dunkel genug, aber ihre Lippen brauchten mehr Farbe. Aus der Handtasche holte sie einen Lippenstift, den sie vor einiger Zeit bei Boots hatte mitgehen lassen, und allein dieser
Handgriff - das Schließen der Finger um das Lippenstiftröhrchen - erinnerte sie an Six und Natasha. Doch der Gedanke an ihre einstigen Freundinnen führte nur dazu, dass der innerliche Druck weiter zunahm. Ihre Hände zitterten. Als sie versuchte, den Lippenstift aufzutragen, brach er in der Mitte, und für einen schrecklichen Moment war sie sicher, dass sie in Tränen ausbrechen würde.
Tränen hätten den Druck gelindert, doch das wusste Ness nicht. Für sie bedeuteten Tränen nur einen Ausdruck der Schwäche, eine Niederlage, das letzte Mittel und wahrscheinlich das letzte Röcheln der Rettungslosen und endgültig Besiegten. Statt zu weinen, feuerte sie den zerbrochenen Lippenstift in den Mülleimer und verließ die Damentoilette, verließ den Bahnhof und ging hinüber zur Bushaltestelle, wo sie fünfzehn Minuten warten musste, ehe ein 23er Bus kam. Als er endlich anrollte, stieß sie zwei Frauen mit Kinderwagen beiseite. Als die Frauen sich über ihre Rücksichtslosigkeit empörten, entgegnete sie nur, sie sollten sich ins Knie ficken.
Der Bus war voll und überheizt, doch sie stieg nicht zum oberen Deck hinauf, wie sie es getan hätte, wären Joel und Toby bei ihr gewesen. Vielmehr drängte sie sich nach hinten und blieb unweit der Ausstiegstüren stehen, sodass sie wenigstens hin und wieder einen Hauch frischer Luft ergattern konnte, wenn die Türen sich öffneten. Ness klammerte sich an einen Haltegriff, als der Bus sich wieder in den Verkehr fädelte, und fand sich Auge in Auge mit einem alten Mann, dem Haare aus Nase und Ohren wuchsen wie winzige Fühler.
Er hatte den Sitzplatz am Gang. Man hätte sein Lächeln für ein großväterliches halten können, bis sein Blick zu ihren Brüsten hinabwanderte und dort einen Moment lang verharrte. Als er seinen Blick wieder hob und ihren suchte, leckte er mit seiner Zunge, die bedeckt war von einem unappetitlichen, weißlichen Belag, über seine farblosen,
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