Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
ein Schokoladenplätzchen und ließ den Blick zögernd über die Menschen schweifen, die sich allmählich im Raum versammelten: Menschen jeden Alters und jeder Rasse, sah Joel. Schwarze, Weiße, Araber und Asiaten, von Rentnern bis zu Babys in Kinderwagen. Die meisten schienen einander zu kennen, begrüßten sich enthusiastisch und begannen, sich zu unterhalten. Der Geräuschpegel stieg.
    Ivan Weatherall bildete den Mittelpunkt von alledem. Als er Joel entdeckte, hob er eine Hand zum Gruß. Obwohl er nicht zu ihm kam, hatte Joel doch den Eindruck, dass Ivan erfreut war, ihn zu sehen. Auf einem Podium an der Stirnseite des Raums standen ein Mikrofon und ein hoher Hocker. Gelbe und orangefarbene Plastikstühle waren davor aufgereiht. Als Ivan auf das Mikrofon zuschritt, wirkte es wie ein Signal an die Teilnehmer, die Zuschauerreihen zu füllen. »So einen Zulauf hatten wir noch nie«, verkündete Ivan, und er klang hochzufrieden. »Ob es wohl am erhöhten Preisgeld liegt? Ich habe immer geahnt, dass Sie bestechlich sind.«
    Er erntete Gelächter. Es war nicht zu übersehen, dass Ivan sich in dieser Gesellschaft wohlfühlte. Joel war nicht überrascht.
    »Ich sehe ein paar neue Gesichter, und ich begrüße Sie herzlich bei Führt Worte statt Waffen«, sagte Ivan. »Ich hoffe, Sie werden hier einen Hort für Ihr Talent finden. Also will ich gar nicht lange reden ...« Er konsultierte das Klemmbrett, das er in der Hand trug. »Sie sind der Erste, Adam Whitburn. Darf ich Sie ermuntern, zu versuchen, Ihre natürliche Scheu heute Abend zu überwinden?«
    Alle lachten leise, als ein Rasta, dessen Dreadlocks in einer großen Wollmütze steckten, von seinem Stuhl im Zuschauerräum aufsprang und die Bühne erstürmte wie ein Preisboxer, der in den Ring tritt. Er tippte an seine Mütze, und als jemand rief: »Na los, Bruder!«, grinste er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Er nahm auf dem Hocker Platz. Der Titel seines Werks, verkündete er, laute »Stephens Heimgang«.
    »Auf der Straße erwischten sie ihn«, begann der Text. »Rot floss das Blut, heiß wie Feuer, das Messer kalter Stahl. Einfach aufgeschlitzt wie Schlachtvieh, Bruder, ohne Grund, weil die Straße eben so ist ...«
    Es war still im Saal, während Adam Whitburn vorlas. Nicht einmal eines der Babys krähte. Joel richtete den Blick auf seine Knie, während die Geschichte sich entfaltete: die zusammenströmenden Gaffer, die Polizei, die Ermittlungen, die Verhaftung, der Prozess und das Ende. Keine Gerechtigkeit und keine Chance auf Veränderung. Jemals. Einfach nur auf der Straße ermordet.
    Nachdem Adam Whitburn geendet hatte, geschah für einen Moment gar nichts. Dann brandete Applaus auf, begleitet von Rufen und Johlen. Doch was dann folgte, war eine Überraschung für Joel. Die Zuschauer begannen, das Werk zu kritisieren. Sie nannten es Gedicht, und auch das erstaunte ihn, denn der Text hatte keine Reime, und das Einzige, was er über Gedichte wusste, war, dass sie sich reimen mussten. Zum Inhalt des Textes sagte niemand etwas - insbesondere nicht über den Mord und die daraus resultierende Ungerechtigkeit, die den Kern bildeten. Vielmehr sprachen sie über Stil und Metrum, Intention und Ausführung. Sie redeten über Metaphern und bildhafte Sprache, und sie stellten Adam Whitburn Fragen nach der Form. Der Rasta lauschte aufmerksam, antwortete, wo es nötig war, und machte sich Notizen. Dann dankte er den Zuhörern, nickte und verließ das Podium.
    Als Nächstes war ein Mädchen namens Sunny Drake an der Reihe. Der Text, den sie geschrieben hatte, schien Joel von Schwangerschaft und Kokain zu handeln. Davon, mit der von der Mutter geerbten Drogensucht geboren zu werden und schließlich selbst ein Baby mit der gleichen Abhängigkeit zur
    Welt zu bringen. Wieder folgte eine Diskussion: Es wurde Kritik geübt, ohne ein Urteil über den Inhalt abzugeben.
    Auf diese Weise vergingen neunzig Minuten. Abgesehen von Ivans einleitenden Worten und der Tatsache, dass er die Teilnehmer nach der Liste auf seinem Klemmbrett aufrief, leitete niemand das Treffen. Es schien von ganz allein zu laufen und allen Teilnehmern vertraut zu sein. Als es Zeit für eine Pause war, trat Ivan wieder ans Mikrofon. Er verkündete, dass für alle Interessierten nun im vorderen Bereich des Saals »Du hast das Wort« beginnen werde, während die übrigen Zuhörer sich an den Erfrischungen laben könnten. Neugierig beobachtete Joel, wie die Gruppe sich auflöste und zwölf

Weitere Kostenlose Bücher