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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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zu haben. Und sie hat ihn noch niemals jemandem verliehen, der so jung war wie du. Ich war ... Um dir die Wahrheit zu sagen, ich war vollkommen verblüfft, was indes nicht das Geringste mit meiner Meinung von dir zu tun hat. Wie dem auch sei, es sollte dir Stoff zum Nachdenken liefern, und ich hoffe, du denkst wirklich darüber nach. Aber vergib mir die Predigt. Sollen wir zusammen nach Hause gehen? Wir haben denselben Weg.«
    »Nachdenken worüber?«, fragte Joel.
    »Hm? Ach so. Über das Schreiben. Poesie. Das geschriebene Wort in jedweder Form. Dir ist die Macht gegeben, Worte zu formen, und ich schlage vor, du nutzt diese Gabe. In deinem Alter in der Lage zu sein, so zu formulieren, dass du deine Leser auf natürliche Weise bewegst... ohne manipulative Tricks, ohne Fallen zu stellen ... einfach nur unverhüllte und reale Emotion ... Aber genug davon. Ich schlage vor, wir bringen dich erst einmal sicher nach Hause, bevor wir deine Zukunft verplanen. Einverstanden?«
    Sie schlugen den Weg in Richtung Portobello Road ein, und unterwegs plauderte Ivan gut gelaunt. Was Joel besaß, erklärte er, sei ein sprachliches Talent oberster Klasse, ein Gottesgeschenk. Eine seltene, angeborene Begabung, Worte in einer Art und Weise einzusetzen, die metrische Kraft demonstrierte.
    Für einen Jungen, dessen Kenntnis von Lyrik sich auf die Ge-dichtchen in kitschigen Geburtstagskarten beschränkte, war all das unverständlich. Doch das schreckte Ivan nicht ab, unbeirrt fortzufahren: Wenn er diese Begabung nährte, würden sich Joel im Laufe seiner Entwicklung viele Möglichkeiten eröffnen. Denn die Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, war ein Talent, mit dem man es weit bringen konnte. Man konnte es beruflich nutzen, als Verfasser aller möglichen Texte, angefangen von politischen Reden bis hin zu modernen Romanen. Man konnte es auch privat nutzen, als Werkzeug der Entdeckung oder als Mittel, um mit anderen in Kontakt zu bleiben. Man konnte es als Ventil für die kreative Energie nutzen, die in jedem Menschen schlummerte.
    Joel lief neben Ivan her und bemühte sich, all das zu verdauen. Er - ein Schriftsteller! Dichter, Dramatiker, Romancier, Liedtexter, Redenschreiber, Journalist - ein Gigant an der Schreibmaschine. Es fühlte sich an wie ein viel zu großer Anzug, den ihm jemand vererbt hatte, der seine richtige Größe nicht kannte. Und es fühlte sich an, als habe er die einzige und wichtigste Tatsache vergessen: die Verantwortung seiner Familie gegenüber. Also schwieg er. Er freute sich sehr, dass er zum Meister von morgen gekürt worden war, aber die Wahrheit war, dass das nicht das Geringste änderte.
    »Ich möchte anderen Menschen helfen«, erklärte er schließlich. Nicht so sehr, weil er es wirklich wollte, sondern weil sein ganzes bisheriges Leben ihm gezeigt hatte, dass dies seine Bestimmung war. Hätte er einer anderen Berufung folgen sollen, hätte die Vorsehung ihm wohl kaum diese Mutter und diesen Bruder beschert.
    »Ach ja, richtig. Deine Zukunftspläne. Psychiatrie.« Ivan führte sie die Golbourne Road entlang, wo die Läden geschlossen und dreckige Autos Stoßstange an Stoßstange geparkt waren. »Selbst wenn du dich endgültig dafür entscheidest, brauchst du immer noch einen kreativen Ausgleich für dich selbst. Weißt du, wenn die Menschen ihren Lebensweg beschreiten, fängt es immer dann an schiefzulaufen, sobald sie den Teil ihrer selbst vernachlässigen, der ihren Geist nährt. Ohne diese Nahrungstirbt der Geist, und es ist Teil unserer Verantwortung für uns selbst, das nicht zuzulassen. Stell dir nur vor, wie wenige psychische Probleme es überhaupt gäbe, wenn jedes Individuum in der Lage wäre, in sich etwas am Leben zu erhalten, das definiert, wer er ist. Genau das vollbringt der kreative Akt, Joel. Gesegnet sind der Mann und die Frau, die dies in jungen Jahren entdecken, so wie du.«
    Joel dachte darüber nach, und es war nur natürlich, dass er den Gedanken mit seiner Mutter in Zusammenhang brachte. Er fragte sich, ob dies vielleicht die Antwort für sie war, jenseits aller Kliniken, Ärzte und Medikamente. Etwas, das sie mit sich anfangen konnte, um sich von ihr selbst abzulenken. Etwas, das ihre Seele ausfüllte. Etwas, das ihre Psyche heilte. Es kam ihm unwahrscheinlich vor.
    Trotzdem sagte er: »Vielleicht...« Und ohne zu merken, was er enthüllte oder mit wem er eigentlich sprach, fügte er hinzu: »Aber ich muss meiner Mum helfen. Sie ist in der Klinik.«
    Ivans Schritt verlangsamte sich.

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