Am Ende war die Tat
lösen«, erwiderte Neal. »Nur so und nich' andersrum läuft das. Ich hab dich ins Visier genomm', und daran ändert sich nix. Wenn du was anderes glaubst, wirste ...«
»Joel! Joel! Joel!« Der Ruf kam von der Brücke. Toby war aus seinem Versteck gekrochen, hatte die Hand vor den Schritt gedrückt und die Knie zusammengepresst. Er hätte sein Problem nicht deutlicher zum Ausdruck bringen können, trotzdem rief er mit der ihm eigenen, erschütternden Aufrichtigkeit: »Ich muss mal! Sind doch keine Kopfjäger mehr hier, oder?«
Joel fühlte einen Stich im Herzen. Er hörte Neal kurzes, hässliches Lachen. »Dämlicher Scheißkopf«, murmelte er. »Was is' eigentlich los mit dem kleinen Wichser?« Er sah zu Joel, dersich ihm wieder zugewandt hatte. »Kopfjäger, ja? Habt ihr euch 'n schönes Versteck gesucht, wohin ihr flüchten könnt? Mann, du hast ja vielleicht mal 'nen beknackten ...«
»Lass ihn in Ruhe!« Seine Stimme klang nicht so wie sonst. »Wenn du meinen Bruder noch ein Mal anrührst, dann schwör ich, du stirbst, und du stirbst blutig. Is' das klar, Mann? Wenn du 'n Problem mit mir hast, trag es mit mir aus. Lass Toby da raus.«
Er ging davon. Er kannte das Risiko, das er einging, indem er Neal den Rücken zuwandte, aber falls der eine Schlägerei anzetteln wollte, blieb Joel ja immer noch das Messer. Er war an dem Punkt angelangt, da er in Versuchung war, es wirklich zu benutzen.
Aber Neal griff nicht an. Stattdessen sagte er: »Nächstes Mal regeln wir die Sache, Mann. Du und ich. Bis dahin sollteste deinen Bruder lieber rund um die Uhr bewachen. Denn du bist nich' mehr der Erste auf meiner Liste, Joel. Nich' mehr und nie wieder, kapiert?«
Kendra wurde immer deprimierter. Auch wenn sie jetzt mehr Zeit für den Aufbau ihres Geschäftes hatte und sogar für einen Kurs in Thai-Massage zur Befriedigung schamhafter Kunden, die während der Behandlung lieber zumindest teilweise bekleidet bleiben wollten, war sie sich der Lücke in ihrem Leben doch bewusst.
Sie versuchte, diese Lücke zu füllen, indem sie sich voll und ganz auf die Campbell-Kinder konzentrierte. Darüber blendete sie allerdings alles Unerwartete - Gefahren, die sich von den bisherigen unterschieden - aus. Gefahren waren bislang immer die Sache von Ness gewesen, die jedoch aus unerfindlichen Gründen plötzlich genau das tat, was sie sollte: Sie verrichtete ihre gemeinnützige Arbeit, besuchte ihre Bewährungshelferin und versuchte, den versäumten Schulstoff aufzuholen, indem sie einen Kurs am College belegte. Die Sorge um Toby hatte Kendra erst einmal hintangestellt, zusammen mit den Formularen, die sie ausfüllen sollte, damit irgendwer - und Kendra wolltegar nicht erst wissen, wer das sein würde - den kleinen Jungen eingehend untersuchen konnte. Das, hatte sie sich geschworen, würde niemals geschehen. Und soweit sie es beurteilen konnte, hatte Joel seine Probleme mit den Raufbolden aus der Nachbarschaft selber gelöst. Die Sorge um die Kinder konnte sich endlich wieder auf ein Dach über dem Kopf, Essen und einen gelegentlichen Ausflug an einen Ort beschränken, wo man keinen Eintritt zahlen musste. Diese Fehleinschätzung - dass ansonsten kein Handlungsbedarf bestünde - führte Kendras Gedanken unweigerlich zu Dix D'Court. Es war genau so gekommen, wie Dix gesagt hatte, glaubte sie: Sich selbst überlassen, waren Joel und Neal Wyatt zu einer Einigung gekommen, die ihnen beiden eine friedliche Koexistenz ermöglichte.
So hatte sie also keine Ahnung, was wirklich vorging, dafür aber reichlich Gelegenheit, ihr Leben zu betrachten und für unbefriedigend zu befinden und darüber das Gespräch mit ihrer Freundin Cordie zu suchen. In der Mittagspause ging sie hinüber zum Kosmetikstudio, wo Cordie gerade dabei war, die Nägel - Krallen vielmehr - einer dicken weißen Dame mittleren Alters zu lackieren. Ihr Haar war fuchsienrot, und sie trug eine Sonnenbrille, obwohl sie sich doch innerhalb eines Gebäudes befand. Isis, stellte Cordie vor, ohne zu erkennen zu geben, ob ihr bewusst war, wie absurd ausgerechnet dieser Name für diese Dame war.
Kendra nickte in Isis' Richtung und schaute Cordie ungefähr eine Minute lang beim Lackieren zu. Cordie hatte einen schillernden Ruf an der Harrow Road. Sie war berühmt für ihre Fähigkeit, künstliche Nägel so zu lackieren, dass absolut kein Zweifel an ihrer Unechtheit bestand. In diesem Fall hatte sie passend zur Jahreszeit ein Herbstmotiv gewählt und auf den Acryllack aufgetragen. Die
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