Am Ende war die Tat
machen. Die Situation glich einem rasenden, außer Kontrolle geratenen Zug, und sie war entschlossen, alle verfügbaren Hebel in Bewegung zu setzen, um ihn zu bremsen. Sie wusste, dass Kendra Osborne kein schlechter Mensch war und dass sie das Beste für sie alle wollte. Doch dass Joel in den Besitz einer Waffe gekommen war - ganz zu schweigen davon, dass er als Straßenräuber identifiziert worden und trotzdem irgendwie der Strafverfolgung entgangen war - und der Angriff auf Ness und dessen Folgen drohten die Situation ins Unermessliche zu verschärfen. Eine Explosion stand unmittelbarbevor. Das wusste die Sozialarbeiterin aus jahrelanger Erfahrung.
Sie begann mit Ness. Sie schlug die Akte auf und überflog sie, als müsse sie ihr Gedächtnis auffrischen. In Wahrheit war sie mit den Details nur allzu gut vertraut, und die Geste diente nur dazu, den Druck auf Kendra zu erhöhen. Kendra saß ihr gegenüber, Dix an ihrer Seite. Eingehüllt in ein Aroma aus Frittierfett und gebratenem Fisch, war er aus dem Restaurant seiner Eltern gekommen und brannte darauf, zu seinem Training ins Fitnessstudio zu kommen. Er wollte aber ebenso Kendra beistehen. Er war ein Bündel widerstreitender Impulse.
Ness leiste ihre Sozialstunden, und das sei gut, eröffnete Fabia ihnen. Doch sie ging nicht mehr zur Arbeit bei Sayf al Din, die als Ersatzleistung für den Schulbesuch vereinbart gewesen sei. Gegenwärtig stehe Fabia in Verhandlung mit dem Richter darüber, inwieweit Vanessa Campbell ihre Bewährungsauflagen noch erfüllte. Doch wenn nicht bald etwas passiere, werde Ness sich vor dem Richter wiederfinden, und dieses Mal würden die Dinge nicht so glattlaufen.
»Er weiß von dem Überfall und würde eine Therapie anstelle des ganztägigen Schulbesuchs akzeptieren«, sagte Fabia. »Es gibt da eine geeignete Therapeutin in Oxford Gardens, zu der sie gehen könnte, wenn Sie garantieren, dass sie hinkommt. Nun zu Joel ...«
»Joel hab ich zur Vernunft gebracht«, warf Kendra hastig ein, nicht weil dies die Wahrheit war, sondern weil sie Dix nichts von dem Raubüberfall und der Waffe erzählt hatte. Warum sollte ich?, hatte sie sich gefragt. Es war doch ohnehin nur eine Verwechslung. »Er hat seither nicht mehr die Schule geschwänzt ...«
Dix sah sie scharf an und runzelte die Stirn.
»... und er weiß, dass er sich glücklich schätzen kann, wie die Sache ausgegangen ist.«
»Aber an dieser Geschichte ist mehr, als man auf den ersten Blick sieht«, wandte Fabia Bender ein. »Dass er so schnell auf freien Fuß gesetzt wurde ...«
»Auf freien Fuß gesetzt? Was is' denn passiert?«, unterbrach Dix. »Steckt Joel in Schwierigkeiten? Ken, verdammt noch mal ...« Er fuhr sich mit der Hand über den kahl geschorenen Schädel. Die Geste drückte Frustration ebenso wie Enttäuschung aus. Dix ahnte nicht, was seine Unwissenheit in dieser Angelegenheit der Sozialarbeiterin offenbarte, die von der Frau ihr gegenüber zu deren Freund blickte und eine Neubewertung der Beziehung der beiden vornahm, die Kendra alles andere als gelegen kam.
»Die Cops hatten ihn auf dem Revier an der Harrow Road«, erklärte Kendra knapp. »Ich wollte dich nicht damit behelligen, du hattest so viel um die Ohren, und die Sache hat sich ja aufgeklärt. Es schien nicht ...«
»Wie soll das hier funktionieren, wenn du Geheimnisse vor mir hast, Ken?« Er stellte die Frage in einem wütenden Flüsterton.
Kendra erwiderte: »Können wir später darüber reden?«
»Scheiße.« Er verschränkte die Arme und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Fabia Bender deutete seine Körpersprache völlig korrekt: Keine Vaterfigur, notierte sie in ihrem geistigen Notizbuch. Ein weiteres Gewicht in der Waagschale voller Argumente dafür, die Kinder aus diesem Haushalt zu entfernen.
»Unter anderen Umständen würde ich darauf bestehen, dass Joel in dieser Einrichtung angemeldet wird, von der ich Ihnen erzählt habe. Drüben in Elephant and Castle. Auch für Ness würde ich das empfehlen. Aber ich bin Ihrer Meinung, Mrs. Osborne: Es ist sehr weit weg, und es gibt niemanden, der ihre Teilnahme oder ihre Sicherheit auf der Fahrt dorthin und zurück gewährleisten könnte ...« Sie hob die Hand und ließ sie wieder auf Joels Akte sinken. »Auch Joel braucht psychologische Betreuung, genau wie Ness, aber er braucht noch etwas anderes. Er braucht Beaufsichtigung, eine Richtung in seinem Leben, ein Interesse, auf das er sich konzentrieren kann, ein Ventil für seine Probleme und ein
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