Am Ende war die Tat
Schuleschwänzen ihrer Nichte in Kenntnis setzte.
Der Anruf erreichte sie nicht zu Hause, sondern im Laden. Wie so oft war Genera allein dort, und so konnte sie nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Dabei wollte sie nichts mehr als in ihren Punto steigen, die Straßen auf und ab fahren und ihre Nichte suchen, so wie sie es nach deren Ankunft in North Kensington schon einmal getan hatte. Weil ihr das aber verwehrt blieb, ging sie stattdessen im Laden auf und ab, vorbei an einem Regal getragener Jeans, an den Wollmänteln entlang, und sie versuchte, nicht an die Lügen zu denken: die Lügen, die Ness ihr seit Wochen aufgetischt, und jene, die sie selbst gerade Mrs. Harper erzählt hatte.
Ihr Herz hatte so heftig in ihren Ohren gehämmert, dass sie kaum verstand, was die Beamtin am anderen Ende der Leitung gesagt hatte, und Genera hatte beteuert: »Ich bedaure dieses Missverständnis wirklich. Kaum hatte ich Ness und Joel in der Schule angemeldet, musste sie nach Bradford, um bei der Pflege ihrer Mutter zu helfen.« Wie in aller Welt sie auf Bradford gekommen war, hätte sie nicht sagen können. Sie war nicht einmal sicher, dass sie es ohne Weiteres auf der Landkarte gefunden hätte, aber sie wusste, Bradford hatte eine große multikulturelle Bevölkerung. Erst im letzten Sommer war es dort zu Krawallen gekommen: Pakistani, Schwarze und die einheimischen Skinheads hatten versucht, sich gegenseitig umzubringen, um zu beweisen, was immer sie sich beweisen mussten.
»Geht sie denn in Bradford zur Schule?«, hatte Mrs. Harper sich erkundigt.
»Sie hat dort Privatunterricht«, antwortete Genera. »Aber sie kommt morgen zurück!«
»Verstehe. Mrs. Osborne, Sie hätten uns wirklich anrufen ...«
»Selbstverständlich. Irgendwie habe ich es schlichtweg ... Ihrer Mutter ging es nicht gut. Es ist eine komplizierte Situation. Sie hat von den Kids ... den Kindern getrennt leben müssen ...«
»Verstehe.«
Natürlich verstand Mrs. Harper gar nichts, sie konnte auch gar nichts verstehen, und Genera hatte nicht die Absicht, den Schleier für sie zu lüften. Sie wollte nur, dass die Frau ihre Lügen glaubte. Der Platz in der Holland Park School war wichtig für Ness - und für Genera selbst.
»Also, Sie sagen, dass sie morgen zurückkommt?«, fragte Mrs. Harper.
»Ich hole sie heute Abend am Bahnhof ab.«
»Sagten Sie nicht morgen?«
»Ja, ich meinte, morgen kommt sie wieder zur Schule. Es sei denn, sie wird krank. Sollte das der Fall sein, rufe ich Sie sofort an ...« Genera zwang sich innezuhalten und wartete auf die Antwort. Wie gut, dass Glory Campbell all ihren Kindern eine akzeptable Variante der englischen Sprache eingetrichtert hatte! Dass sie in dieser Situation in der Lage war, korrekte Sätze in ordentlicher Aussprache zu formulieren, fand Genera ausgesprochen hilfreich. Sie wusste, es verlieh ihr mehr Glaubwürdigkeit als der Dialekt, den Mrs. Harper zweifellos erwartet hatte.
»Dann werde ich ihren Lehrern Bescheid geben«, sagte Mrs. Harper. »Und bitte informieren Sie uns in Zukunft, Mrs. Os- borne.«
Genera ließ sich vom Befehlston der Schulaufsichtsbeamtin nicht kränken. Sie war so dankbar, dass die Frau die wilde Lügengeschichte über Ness' Pflegeeinsatz bei Carole Campbell geschluckt hatte; sie hätte jede Erwiderung - außer vielleicht einer direkten Beleidigung - erträglich gefunden. Sie war erleichtert, dass es ihr gelungen war, aus dem Stegreif ein Märchen zusammenzudichten, aber kurz nach dem Ende des Telefonats war sie ob der Tatsache, dass sie gezwungen worden war, jenes Märchen zusammenzudichten, so aufgewühlt, dass sie im Laden umherwandern musste. Das tat sie immer noch, als Joel und Toby auf dem Heimweg vom Lernzentrum bei ihr vorbeischauten.
Toby trug ein Schulheft unter dem Arm, dessen Seiten mitbunten Aufklebern versehen waren: die Belohnungen für seinen Erfolg bei den phonetischen Übungen, die ihm das Lesenlernen erleichtern sollten. Weitere Aufkleber mit »Gut gemacht!«, »Fabelhaft!« und »Super!« in leuchtendem Blau, Rot und Gelb zierten seinen Schwimmreifen. Genera sah sie zwar, gab aber keinen Kommentar ab. Stattdessen fragte sie Joel: »Wo treibt sie sich den ganzen Tag rum?«
Joel war kein Dummkopf. Doch weil er dem ungeschriebenen Gesetz verpflichtet war, niemals zu petzen, runzelte er die Stirn und stellte sich blöd. »Wer?«
»Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede. Die Schulaufsicht hat mich angerufen. Wo hat Ness sich rumgetrieben? Ist sie
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