Am Ende war die Tat
Wochenende abends auszugehen, weil sie in ihrer Schuluniform zu Hause saß, wenn ihre Tante abends von der Arbeit oder von ihrem Massagekurs heimkam, und weil sie vorgab, am Küchentisch ihre Hausaufgaben zu machen, während Joel genau das tatsächlich tat - nur deshalb war es Ness bislang gelungen, Genera über ihr tatsächliches Leben im Dunkeln zu lassen. Sie ließ größte Umsicht walten, und wenn es gelegentlich vorkam, dass sie zu viel getrunken hatte und es nicht riskieren konnte, sich zu Hause blicken zu lassen, rief sie ihre Tante brav an, um Bescheid zu sagen, dass sie bei ihrer Freundin Six schlafen werde.
»Was für ein Name ist das denn?«, hatte Genera wissen wollen. »Six? Sie heißt Six?«
Ihr richtiger Name sei Chinara Kahina, erklärte Ness, aber ihre Familie und Freunde nannten sie immer nur Six, weil sie das sechste Kind ihrer Mutter und zweitjüngster Spross der Familie war.
Das Wort »Familie« verlieh Six' Lebensverhältnissen einen Anstrich von Seriosität, der Genera irrigerweise zu dem Gefühl verleitete, bei dieser Freundin sei ihre Nichte sicher, und dort ginge alles mit rechten Dingen zu. Hätte Genera gewusst, was man sich bei Six zu Hause unter »Familie« vorstellte, hätte sie dieses Zuhause selbst gesehen oder das, was dort vorging, wäre ihre Dankbarkeit darüber, dass Ness so schnell eine Freundin in der Gegend gefunden hatte, deutlich gedämpfter gewesen. Da sie von den wahren Verhältnissen aber keine Ahnung hatte und Ness ihr keinen Anlass zu Argwohn gab, ließ Genera sichzu dem Glauben verleiten, es sei alles in Ordnung. So konnte sie sich guten Gewissens mit ihren Zukunftsplänen als Masseurin befassen und ihre Freundschaft mit Cordie Durelle neu beleben.
Diese Freundschaft hatte in den Wochen, seit die Campbell- Kinder bei Genera eingezogen waren, gelitten. Ihre Ausflüge ins Nachtleben wurden jetzt ebenso regelmäßig vertagt, wie sie früher stattgefunden hatten. Die stundenlangen Telefonate, die einst Stützpfeiler dieser Freundschaft gewesen waren, wurden immer kürzer und verkamen schließlich zu dem Versprechen: »Ich ruf bald zurück, Liebes.« Nur dass »bald« sich nie einstellte. Doch als das Leben am Edenham Way allmählich das entwickelte, was Genera als festes Muster betrachtete, gedachte sie, sich Stück für Stück der Tage und Abende zurückzuerobern, die sie vor der Ankunft der Kinder gekannt hatte. Als Erstes kam ihre Arbeit: Weil sie die unbezahlte freie Stunde pro Tag nicht mehr brauchte, um sich um die Belange ihrer Nichte und Neffen zu kümmern, begann sie wieder, Vollzeit im Laden der AIDS-Stiftung zu arbeiten. Sie nahm ihre Kursbesuche im Kensington and Chelsea College wieder auf, genau wie die Werbemassagen im Fitnessstudio in der Portobello Green Arcade. Die Kinder hatten sich in ihren Augen so gut eingelebt, dass sie diese Massagen auf zwei weitere Sportclubs in der Umgebung ausweitete, und schließlich stellten sich auf diesem Wege sogar drei erste Stammkunden ein, sodass sie das Gefühl hatte, das Leben kehrte in geregelte Bahnen zurück.
Genera freute sich, Cordie zu sehen, als ihre Freundin im Laden vorbeischaute. Es war ein regnerischer Nachmittag, nicht lange nach dem kleinen Zwischenfall mit dem Zungenkuss von Ness und Six.
Genera hatte Joel und Toby erwartet, denn es war in etwa die Zeit, da sie sich vom nahen Lernzentrum auf den Heimweg machten. Sie versuchte gerade, eine Spende abscheulichen Modeschmucks aus den Siebzigerjahren zu einer ansprechenden Auslage zu arrangieren, als sie das Glöckchen über der Tür klingeln hörte. Sie schaute auf, entdeckte Cordie statt der Jungen am Eingang, lächelte und sagte: »Tu mir den Gefallen, und lenk mich von diesem Mist hier ab!«
»Der Kerl, den du dir angelacht hast, muss ja der Hammer sein«, bemerkte Cordie. »Der besorgt's dir wahrscheinlich dreimal am Tag, und du liegs' nur da und stöhns', und dein Hirn zerschmilz' dir dabei. Isses so, Miss Genera?«
»Soll das ein Witz sein? Ich hab so lang keinen Kerl mehr gehabt, dass ich gar nicht mehr weiß, was an ihnen anders is' als bei uns«, antwortete Genera.
»Na, Gott sei Dank«, befand Cordie. »Ehrlich, ich hab schon geglaubt, du treibs' es mit meinem Gerald und gehst mir aus dem Weg, weil du sicher bist, ich würd's dir sofort anseh'n. Nur eins sag ich dir, du Schlampe: Ich wär ja so froh, wenn du's mit Gerald machen würdest. Dann würde er mich nicht jede Nacht bespringen.«
Genera lachte mitfühlend. Gerald Durelles Sexualtrieb
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