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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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du es gelernt hast, Vanessa! Und erzähl mir nicht, du rauchst Selbstgedrehte, wenn du mit einer Packung Filterzigaretten in deinem Rucksack herumläufst. Was immer du denken magst, ich bin nicht blöd. Du rauchst Gras. Du schwänzt die Schule. Was treibst du sonst noch?«
    Ness erwiderte: »Ich hab dir gesagt, dass ich das hässliche Zeug nicht anzieh.«
    »Du erwartest, dass ich dir das glaube? Dass es nur die Schuluniform ist - weil sie dir nicht gefällt? Für wie dämlich hältst du mich eigentlich? Mit wem warst du die ganzen letzten Wochen zusammen? Was hast du gemacht?«
    Ness griff nach dem Kaugummipäckchen. Sie hielt es ihrer Tante hin, fragte sie mit dieser sarkastischen Geste, ob es ihr wenigstens erlaubt sei, einen Streifen Kaugummi zu kauen, da sie anscheinend nicht rauchen durfte. »Was ich gemacht hab? Nix«, antwortete sie.
    »Nichts«, korrigierte Genera. »Nichts. Nichts. Sag es!«
    »Nichts«, wiederholte Ness. Sie steckte den Kaugummi in den Mund. Dann spielte sie mit der Verpackung, wickelte sich das Stückchen Alufolie um den Zeigefinger und starrte darauf hinab.
    »Also nichts. Mit wem?«
    Ness antwortete nicht.
    »Ich habe dich gefragt...«
    »Six un' Tash«, unterbrach sie. »Okay? Six un' Tash. Wir häng' bei Six rum. Hör'n Musik. Das is' alles, okay?«
    »Ist sie dein Dealer, diese Six?«
    »Quatsch, 'ne Freundin.«
    »Und warum habe ich sie dann noch nicht kennengelernt? Weil sie dir das Zeug beschafft, und du weißt, dass ich das rauskriegen würde. Ist es so?«
    »Scheiße. Ich hab dir doch gesagt, wofür die Blättchen sind. Glaub doch, was du wills'. Außerdem has' du doch gar kein Interesse dran, meine Freunde kenn'zulern'.«
    Genera merkte sehr wohl, dass Ness versuchte, sie in die Defensive zu drängen, aber sie gedachte nicht, das zuzulassen. Stattdessen verlegte sie sich auf ein besorgtes: »So kommen wir nicht weiter. Was ist nur los mit dir, Vanessa?« - in dem uralten Tonfall elterlicher Verzweiflung, dem für gewöhnlich die ewige Frage folgt: Was habe ich nur falsch gemacht?
    Aber Genera ersparte sich diese stumme, gegen sie selbst gerichtete zweite Frage. Im letzten Moment rief sie sich ins Gedächtnis, dass dies nicht ihre Kinder waren und eigentlich keines von ihnen zu ihrem Problem werden sollte. Da sie jedoch nun mal Einfluss auf ihr Leben genommen hatten, musste sie dranbleiben, und fragte, ohne zu ahnen, dass dies genau die Frage sein würde, die am wenigsten dazu geeignet war, ein positives Ergebnis hervorzurufen: »Was würde deine Mum sagen, Vanessa, wenn sie sähe, wie du dich benimmst?«
    Ness verschränkte die Arme vor der Brust. An diesem Punkt würde sie sich nicht packen lassen, weder durch Erinnerungen an die Vergangenheit noch durch Zukunftsprognosen.
    Obwohl Genera nicht genau wusste, was Ness umtrieb,nahm sie doch an, dass es mit Drogen zu tun hatte und - aufgrund des Alters ihrer Nichte - mit Jungen. Und dabei konnte nichts Gutes herauskommen. Doch wirklich wissen konnte Genera es nicht. Sie hatte eine Ahnung davon, was sich in den Wohnsiedlungen von North Kensington so alles abspielte. Drogenhandel. Hehlerei. Raubüberfälle. Einbrüche. Gelegentlich Vergewaltigungen. Banden halbwüchsiger Jungen, die es darauf anlegten, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Banden halbwüchsiger Mädchen, die mehr oder minder das Gleiche im Schilde führten. Die beste Methode, Problemen aus dem Weg zu gehen, bestand darin, diszipliniert die Schule zu besuchen und sich ansonsten zu Hause aufzuhalten. Aber das war ganz offensichtlich nicht der Tagesablauf, dem Ness gefolgt war.
    »So kannst du nicht weitermachen, Ness. Das wird kein gutes Ende nehmen.«
    »Ich kann auf mich selber aufpassen«, entgegnete Ness.
    Und genau das war der eigentliche Punkt: Genera und Ness hatten vollkommen unterschiedliche Definitionen davon, was »auf sich aufpassen« bedeutete. Schwere Zeiten, Krankheiten, Enttäuschungen und Tod hatten Genera gelehrt, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Das Gleiche und Schlimmeres hatte Ness gelehrt, ihr Heil in der Flucht zu suchen: zu rennen, so weit und so schnell ihr Geist und ihr Wille sie trugen.
    Genera stellte also die einzige Frage, die zu stellen ihr noch übrig blieb und von der sie hoffte, sie werde zu ihrer Nichte durchdringen und ihr Verhalten in Zukunft beeinflussen: »Vanessa, willst du wirklich, dass deine Mutter erfährt, was du hier treibst?«
    Ness hob den Blick von ihrem Kaugummipapierchen und neigte den Kopf zur Seite.

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