Am Ende war die Tat
in dieser Gegend völlig fehl am Platz. Die Eigentümer hatten nicht nur ihr Geld daraufgesetzt, dass dieser Teil North Kensingtons in absehbarer Zukunft eine Sanierung und Aufwertung erfahren werde. Vor fünf Jahren hätte niemand, der auch nur einen Funken Verstand besaß, zehn Pfund in die Immobilie investiert. Aber das war bezeichnend für London: Man mochte ein Viertel oder gar einen ganzen Stadtbezirk hoffnungslos heruntergekommen nennen, aber nur ein Dummkopf würde ihn je für tot erklären.
Der Club lag am Ende einer Reihe von Ladenlokalen, die allesamt schäbig wirkten - angefangen von einem Waschsalon über einen Buchladen bis hin zu einem Schlüsseldienst. Die Tür des No Sorrow war von diesen Etablissements abgewandt, soals könne sie ihre Nachbarn nicht ertragen. Der Club erstreckte sich über zwei Etagen: Im Erdgeschoss standen eine halbmondförmige Bar, Tischchen, um die man sich zum Plaudern niederlassen konnte, und gedämpftes Licht beschien Wände, die vom Zigarettenqualm vergilbt waren. Im ersten Stock gab es Musik und Getränke, einen DJ, der in wahnwitziger Lautstärke Platten abspielte, und eine Lightshow, die die ganze Szenerie wie einen schlechten LSD-Trip wirken ließ.
Kendra und Cordie begannen im Erdgeschoss und verschafften sich erst einmal einen Überblick. Sie holten sich etwas zu trinken und nahmen »das Männermaterial in Augenschein«, wie Cordie es ausdrückte.
Kendra kam schnell zu dem Schluss, dass das Angebot reichhaltig, aber nicht übermäßig attraktiv war: Männer - großteils jenseits der Lebensmitte - waren hier im Erdgeschoss zwar in der Überzahl, doch bei näherer Betrachtung stellte sie fest, dass nicht ein einziger sie interessierte - ein euphemistischer Schluss, denn es war ziemlich offensichtlich, dass sich auch keiner von ihnen für sie interessierte. Eine Handvoll junger Frauen hatte alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kendra war sich jedes einzelnen ihrer vierzig Jahre bewusst.
Als sie vorschlug, den Club wieder zu verlassen, antwortete Cordie: »Gleich, lass uns nur noch kurz nach oben gehen.« Selbst wenn sie dort oben keine geeigneten Männer fänden, meinte Cordie, könnten sie und Kendra wenigstens ein bisschen tanzen, zusammen oder jede für sich.
Der Lärm im Obergeschoss war ohrenbetäubend, und es gab nur drei Lichtquellen: eine kleine Tischlampe, die die Anlage des DJ beleuchtete, zwei gedimmte Birnen über der Bar und das Stroboskop. Kendra und Cordie blieben am Treppenabsatz stehen, bis ihre Augen sich auf das Dämmerlicht eingestellt hatten. Auch an die Hitze mussten sie sich erst gewöhnen. Im Frühjahr kam in London einfach niemand auf die Idee, ein Fenster zu öffnen, nicht einmal um den Zigarettenrauch hinauszulassen, der vom Stroboskop angeleuchtet wurde, sodass die Szene wie ein Aufklärungsfilm wider den Blauen Dunst wirkte.
Hier oben gab es keine Tische, nur ein brusthohes Bord entlang der Wände, wo die Tänzer ihre Gläser abstellen konnten, während sie sich den Freuden der Musik hingaben. Im Augenblick lief Rap: viel Text, viel Beat und keine Melodie, aber das schien niemanden zu stören. Es sah aus, als drängten sich zweihundert Menschen auf der Tanzfläche, und noch einmal hundert rangelten um die Aufmerksamkeit der drei Barkeeper, die in Höchstgeschwindigkeit Drinks mixten und Biere zapften.
Mit einem Jubellaut stürzte Cordie sich ins Getümmel. Sie drückte Kendra ihr Glas in die Hand und tänzelte auf zwei junge Männer auf der Tanzfläche zu, denen sie äußerst willkommen zu sein schien. Kendra fühlte sich noch schlimmer als zuvor - noch älter, als sie tatsächlich war. Vor der Ankunft der Campbells hatte sie in dem Bewusstsein gelebt, dass das Leben flüchtig war; das hatte der Tod ihrer beiden Brüder sie gelehrt. Sie hatte sich immer bemüht, die Dinge bewusst zu erfahren, statt nur darauf zu reagieren. Sie selbst prägte ihr Dasein, nicht umgekehrt. Doch in den Monaten, seit Glory sie unverhofft in die Mutterrolle gedrängt hatte, hatte Kendra nur sehr wenig zuwege gebracht, das auch nur annähernd Ähnlichkeit mit ihrem alten Leben hatte. Es kam ihr vor, als sei sie nicht mehr dieselbe - als sei sie nicht mehr die Frau, die zu sein sie vor langer Zeit beschlossen hatte.
Erfahrung - vor allem die zweier Ehen - hatte Kendra gelehrt, dass nur sie allein dafür verantwortlich war, wenn das Leben nicht zu ihrer Zufriedenheit verlief. Wenn sie ihr Alter spürte und die Last einer Verantwortung, die sie nicht haben
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