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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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hätte ich auf den Knien gelegen und gebetet. Komm rein, komm rein! Ich brauche unbedingt ein zweites Paar Hände.« Er verschwand im Innern des Hauses und ließ die Tür erwartungsvoll offen stehen.
    Joel trat von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, was er tun sollte. Hätte ihn jemand gefragt, hätte er nicht sagen können, warum er eigentlich zur Sixth Avenue gekommen war. Aber da er schon mal hier war, da er Ivan von der Schule kannte und da er nach all seinen Bemühungen nichts Besseres vorzuweisen hatte als ein blödes Banner, auf dem stand: »Es ist ein Junge!«, betrat er das Haus.
    Gleich im Eingang stand ein roter Eimer mit der Aufschrift »Sand«, in dem vier zusammengerollte Regenschirme und ein Spazierstock standen. Darüber hing ein hölzerner Elefantenkopf mit nach oben gewölbtem Rüssel, der als Kleiderhaken diente, und von dem einzigen Stoßzahn des Tiers baumelte ein Schlüsselbund.
    Leise schloss Joel die Tür. Er nahm sofort zwei Dinge wahr: den Duft frischer Minze und das Ticken von Uhren. Er befand sich inmitten einer generalstabsmäßig organisierten Unordnung. Abgesehen von dem Elefanten dekorierte eine Vielzahl alter Schwarz-Weiß-Fotos die Wände der kleinen Diele. Nicht ein einziges davon hing schief, wie es passierte, wenn man im Vorbeigehen die Rahmen streifte. Unterhalb zogen sich vollgestopfte Bücherregale die Wand entlang und weiter bis in ein winziges Wohnzimmer. Doch all die vielen Bücher standen wohlgeordnet mit unversehrten Rücken in Reih und Glied.
     

Über den Regalen hingen mehr als ein Dutzend Uhren. Joel empfand ihr vielstimmiges Ticken als beruhigend.
    »Nur keine Scheu. Tritt ein!« Ivan Weatheralls Stimme kam von einem Tisch, der in den Erker des Wohnzimmers unters Fenster gequetscht worden war. Von dort aus hatte Ivan ihn vor dem Haus entdeckt. Joel trat näher und stellte mit Staunen fest, dass der Mann in dem kleinen Raum eine Arbeits-, eine Bastei- und eine Musikecke eingerichtet hatte. Derzeit war er in der Bastelecke zugange: Er hatte versucht, einen Pappkarton auszupacken, in dem irgendetwas in einer Styroporummantelung festklemmte. »Du bist genau im richtigen Moment gekommen«, eröffnete Ivan ihm. »Fass mal mit an, bitte! Ich bekomme das einfach nicht raus. Eine Schar Sadisten muss diesen Karton gepackt haben, und jetzt sitzen sie sicherlich irgendwo und amüsieren sich köstlich bei der Vorstellung, wie ich mich sinnlos abmühe. Aber ich werde derjenige sein, der zuletzt lacht. Komm her, Joel! Selbst in meinen eigenen vier Wänden beiße ich nicht.«
    Joel kam näher. Der Minzegeruch wurde intensiver. Ivan kaute nicht Kaugummi, sondern echte frische Minze! Auf dem Tisch stand eine flache Schale voll blättriger Zweiglein, und Ivan fischte gerade eines davon heraus und steckte es zwischen die Lippen wie eine Zigarette.
    »Lass uns zusammen unser Glück versuchen. Wenn du die Schachtel festhältst, gelingt es mir vielleicht, den Inhalt heraus- zubugsieren.«
    Joel legte das »Es ist ein Junge!«-Banner auf den Boden und kam Ivan zu Hilfe. Während Ivan am Inhalt der Schachtel ruckte, fragte Joel: »Was is'n da drin?«
    »Eine Uhr.«
    Joels Blick schnellte hinüber zu den Uhren an der Wand. »Wofür brauchen Sie 'n noch eine?«, fragte er.
    Ivan folgte seinem Blick. »Ah. Nun ja. Hier geht es nicht um Zeitmessung, falls du das meinst. Es geht um das Abenteuer. Um Fingerspitzengefühl, Ausgeglichenheit und die Geduld, ein Projekt zu Ende zu führen, ganz gleich, wie kompliziertes ist. Mit anderen Worten: Ich baue Uhren. Dabei entspanne ich mich. Ich kann mich konzentrieren und mich von all den Dingen ablenken« - er lächelte - »über die ich andernfalls nachdenken müsste. Abgesehen davon, empfinde ich den Prozess als eine Miniaturabbildung des menschlichen Kosmos.«
    Joel runzelte die Stirn. Ivan Weatheralls Sprache war einfach zu eigenartig. »Wovon reden Sie eigentlich?«, fragte er.
    Ivan antwortete nicht, bis sie den Styroporblock aus dem Karton gelöst hatten. Er hob den Deckel an, legte ihn behutsam beiseite. »Fingerspitzengefühl, Ausgeglichenheit und Geduld. Die Beziehungen, die man mit anderen unterhält, die Pflichten, die man sich selbst auferlegt, und die Ausdauer, die notwendig ist, um seine Ziele zu erreichen.« Er betrachtete den Inhalt der Styroporhülle, die, wie Joel jetzt sah, Plastikpäckchen mit einzelnen großen Buchstaben und kleine, mit Etiketten versehene Pappschachteln enthielt. Ivan holte sie vorsichtig hervor, legte sie

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