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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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es sich vielleicht anhören mag. Aber mein Gott, das weißt du doch inzwischen, oder? Und wenn wir Freunde werden wollen, statt nur die Rollen zu spielen, die uns in der Schule zugewiesen wurden - ich meine die des Schülers und die des Mentors -, dann scheint mir, als Freunde ...«
    »Wer redet von Freunden?« Joel kam sich schon wieder veralbert vor. Und wer wäre nicht misstrauisch, wenn ein erwachsener Mann plötzlich anfing, von Freundschaft zu reden. Doch Joel empfand kein Misstrauen, nur Verwirrung. Und es war eine Verwirrung, die von der Neuartigkeit dieser Situation herrührte. Kein Erwachsener hatte ihn je um seine Freundschaft gebeten, wenn es denn das war, was Ivan tat.
    »Niemand, um genau zu sein«, erwiderte Ivan. »Aber warum sollten wir keine Freunde sein, wenn wir beide es wünschen und uns dazu entschließen? Kann man denn überhaupt je genug Freunde haben? Ich glaube nicht. Was mich betrifft - wenn ich feststelle, dass ich ein Interesse mit jemandem teile, Enthusiasmus für ein Thema oder einen bestimmten Blickwinkel auf das Leben ... was immer es ist ... dann ist dieser Mensch mir seelenverwandt, ganz gleich wer er ist. Oder auch sie. Oder sogar es, denn ehrlich gesagt, gibt es Insekten, Vögel und Tiere, mit denen ich manchmal mehr gemeinsam habe als mit Menschen.«
    Joel musste lächeln, als er sich vorstellte, wie Ivan Weatherall mit einem Vogelschwarm kommunizierte. Er legte das Banner wieder ab. Und dann hörte er sich sagen, was er eigentlich niemals einem Menschen hatte anvertrauen wollen: »Psychiater.«
    Ivan nickte versonnen. »Eine ehrenvolle Aufgabe. Die Analyse und Wiederherstellung des leidenden Geistes. Der Gehirnchemie unter die Arme greifen. Ich bin beeindruckt. Wie bist du auf Psychiatrie gekommen?« Er nahm wieder Platz und winkte Joel zurück an seine Seite, um die Inventur der Uhrenbauteile fortzusetzen.
    Joel rührte sich nicht. Es gab Dinge, über die zu reden er nicht ertragen konnte, auch jetzt nicht. Aber er entschloss sich, es trotzdem zu versuchen, wenigstens teilweise. »Letzte Woche war Tobys Geburtstag«, begann er. »Wenn jemand Geburtstag hatte, haben wir immer ...« Er spürte ein Brennen in den Augen, und es fühlte sich an, wie wenn Zigarettenqualm durch seine geschlossenen Lider drang. Aber in diesem Zimmer lag nirgendwo eine Zigarette in einem Aschenbecher und schwelte vor sich hin. Hier war nur Ivan, der nach einem weiteren Minzezweiglein griff, es zusammenrollte und in den Mund steckte. Sein Blick war jedoch unverwandt auf Joel gerichtet, und Joel sprach weiter, weil es sich anfühlte, als würden die Worte aus ihm herausgezogen, nicht so, als sei er derjenige, der sie aussprach. »Dad hat immer gesung'an Geburtstagen. Er könnt überhaupt nich' gut singen, und wir haben immer drüber gelacht. Er hatte so 'ne beknackte Ukulele aus gelbem Plastik und tat so, als würd er drauf spielen. >Jetzt werden Musikwünsche entgegengenommen, meine Damen und Herren<, hat er immer gesagt. Wenn Mum da war, hat sie sich Elvis gewünscht. Und dann hat Dad immer gesagt: >Der alte Knacker, Caro? Du musst mit der Zeit geh'n, Frau!< Aber dann hat er's doch gesungen. So grässlich, dass uns die Ohren davon wehtaten, und alle ha'm gebrüllt, er soll auf- hör'n.«
    Ivan saß still. Eine Hand ruhte auf der Bauanleitung, die andere auf seinem Bein. »Und dann?«
    »Hat er aufgehört und die Geschenke geholt. Ich hab mal einen Fußball bekomm', und Ness hat Ken gekriegt, diesen Barbie-Mann.«
    »Ich meinte nicht an den Geburtstagen.« Ivans Stimme klang mitfühlend. »Ich meinte, was ist passiert? Dass ihr nicht bei euren Eltern wohnt, weiß ich. Das hat man mir in der Schule gesagt. Aber warum das so ist, weiß ich nicht. Was ist mit ihnen passiert?«
    Das war Niemandsland. Joel schwieg. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Aber zum ersten Mal wollte er antworten. Doch das hätte bedeutet, ein Familiengeheimnis preiszugeben. Niemand redete darüber. Niemand konnte es aushalten, diese Dinge auszusprechen.
    Joel unternahm einen Versuch: »Die Bullen ha'm gesagt, er war aufm Weg zum Schnapsladen. Mum hat denen gesagt, das stimmt nich', denn er war geheilt. Er hat nix mehr getrunken, hat sie gesagt. Er wollte nur Ness vom Ballett abhol'n, so wie immer. Außerdem hatte er mich und Toby dabei. Wie komm' die nur drauf, er wollt sich Schnaps kaufen, wo er seine Söhne dabeihat?«
    Aber mehr brachte er nicht heraus. Der Rest ... tat zu weh, um auch nur daran zu denken. Und der Schmerz,

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