Am Ende zählt nur das Leben
machten uns auf den Weg in die Firma, wo ich zu Cays engstem Kollegen Louis ein gutes Verhältnis hatte. Alle Mitarbeiter wussten Bescheid und sprachen mir ihr Beileid aus. Louis stand vor mir und war fassungslos. Sein Blick sprach Bände: Er konnte nicht fassen, was geschehen war. Wie in Zeitlupe kam er auf mich zu und nahm mich in den Arm. Die anderen Kollegen gaben mir die Hand. Petra war vor einigen Monaten in eine Zweigstelle versetzt worden, sodass ich ihr hier nicht begegnete.
»Cay hat sich, an dem Tag … ich meine … also, letzte Woche, als das alles passiert ist, hier bei uns auf eine seltsame Art verabschiedet. Er hat eine kleine Rede gehalten und sich bei jedem von uns bedankt. Das war merkwürdig, denn schließlich wollte er nur einige Tage weg sein. Es klang aber nach einem längeren Abschied. Das war nicht normal, aber wir hatten uns trotzdem nicht viel dabei gedacht. Ich verstehe das alles nicht. Wie konnte er so etwas tun?«, sagte Louis.
»Sonst hat er nichts gesagt?«, wollte ich wissen.
»Nichts Bestimmtes. Wenn man nur was geahnt hätte! Cay und ich waren eigentlich zum WM -Gucken verabredet. Er meinte dann nur, daraus würde nichts, weil er familiäre Probleme zu lösen habe. Ich habe ihm nicht angemerkt, wie schlimm es wirklich um ihn stand. Es tut mir so wahnsinnig leid, ich verstehe das alles nicht. Wie konnte er zu einer solchen Wahnsinnstat fähig sein? So etwas hätte ich ihm niemals zugetraut … äh, ich meine, das passt doch irgendwie alles nicht. Wie kann er dir so etwas antun? Ich begreife das nicht.«
»Mir geht es genauso. Mir und meiner Familie. Keiner versteht es.«
Gemeinsam versuchten wir Licht in die finanzielle Lage zu bringen. Offensichtlich hatte Cay diverse Kredite über verschiedene Konten laufen. Louis wusste teilweise davon und klärte mich auf.
»Dir steht ein sogenanntes Sterbegeld unserer Firma zu. Davon kannst du die notwendigsten Zahlungen vornehmen«, sagte er. Wir besprachen das weitere Vorgehen, wobei ich mich auf ihn und Robert verließ, denn ich konnte mich nicht auf die Details konzentrieren. Robert verstand etwas von Finanzen und würde mir später alles erklären.
Mir fiel ein Brief aus der Schweiz ein. Ich hatte Cays Post nie geöffnet, aber als im letzten Jahr der Umschlag einer Schweizer Bank im Postkasten lag, hatte ich ihn darauf angesprochen. Angeblich hatte das Schreiben etwas zu tun mit einem Konto für ein gewisses Notfallgeld. Falls mal was ist.
Damals dachte ich, der finanzielle Notfall sei eingetreten, weil wir uns eine neue Küche gekauft hatten. Nun stellte sich heraus, dass es sich um einen Kredit handelte. Um einen von mehreren Krediten, die mir allesamt unbekannt waren. Wo das Geld geblieben war, konnte ich mir nicht erklären. Was hatte er damit gemacht?
Als ich in der Bank nachfragte, stellte sich heraus, dass nur ein einziges gedecktes Konto existierte, ein sogenanntes Sparvertragskonto, in dem Cays Exfreundin Petra als Begünstigte eingetragen war. Ich kannte Cay nicht. Ich wusste von nichts. Wer war er überhaupt gewesen?
Robert telefonierte mit Petra, um etwas über die Hintergründe des Kontos zu erfahren. Er behielt den Überblick, notierte die Kontostände und summierte die Schulden. Es wurden immer mehr. Ich dankte ihm für jede Sekunde, die er bei mir war, und versuchte gleichzeitig die vielen Informationen zu begreifen. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Vor mir breitete sich eine Seite von Cays Leben aus, die mir vollkommen unbekannt war. Alles in allem waren es jedoch noch halbwegs überschaubare Summen. Zumindest konnte ich darin keinen Grund für einen Selbstmord sehen. Immer wieder hört man von Menschen, die sich aus finanzieller Not das Leben genommen haben. Davon konnte bei Cay jedoch keine Rede sein. Seine Schulden hätte er mit einem vernünftigen Finanzplan und bei seinem Gehalt innerhalb einiger Jahre ausgleichen können.
Es gab so vieles zu organisieren. Ich rief einige Freunde in Stuttgart an. Cays bester Freund Hartmut war außer sich vor Trauer und Empörung.
»Hätte er nur sich selbst getötet, wäre es zu akzeptieren, aber wie kann er Sarah, ein wehrloses Mädchen, in den Tod schicken? Das ist unverzeihlich. Wie konnte er dir das antun? Ich gehe nicht zu seiner Beerdigung«, sagte Hartmut mit Wut in der Stimme, und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Beinahe wirkte er aggressiv.
»Der muss wahnsinnig gewesen sein. Die arme Sarah. Was hat die Kleine
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