Am Ende zählt nur das Leben
Radio war von nichts anderem als der WM die Rede. Am Abend spielte Deutschland gegen Polen. Robert hatte sich so auf die WM gefreut, er war ein großer Fußballfan. In seinem Zimmer hatte er den Spielplan aufgehängt. Und auch ich hatte mich in der Woche vor dem Eröffnungsspiel anstecken lassen, aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Es war warm, wir lagen bei geöffnetem Fenster auf dem Bett. Im Biergarten war eine Leinwand aufgebaut, die Gäste trafen lange vor Spielbeginn ein und saßen dicht gedrängt davor, Gläser klirrten, Lachen und Freudenrufe erklangen. Stunden später hörten wir den grenzenlosen Jubel, als das entscheidende Tor geschossen wurde. Alle Menschen in unserer Nähe ließen ihre Freude lauthals ertönen, ein gewaltiges Schreien hallte durch die Stadt. Das ganze Land war ein einziger Jubel. Ein Sommermärchen. Ich konnte es nicht fühlen.
Mein grenzenloser Halt war Robert. Ich stützte mich auf ihn und vertraute ihm blind. Zu keiner Sekunde zweifelte ich an unserer Liebe. Einer Liebe, die in einer Zeit der Tragödie mit jedem Blick, mit jeder Geste und mit jeder helfenden und stützenden Hand, die er mir reichte, weiter wachsen konnte. Robert! Ich traute mich nicht einmal zu denken, was ich ohne ihn tun würde. Er befasste sich mit den Papieren aus meinem vorherigen Leben. Er wirbelte durch meine damalige Wohnung und ordnete das Chaos. Er bekam tiefe Einblicke in ein Leben, das nicht mehr existierte.
Ich sah Sarahs Kinderzeichnungen an den Wänden hängen, roch ihren Duft in den Laken und bereitete die Wohnungsauslösung vor. Wenn ich Robert hilflos ansah, dann sagte er manchmal etwas, das mich weiterarbeiten ließ oder mich ablenkte.
»Katja, hast du Hunger? Ich finde, wir sollten eine Kleinigkeit essen, bevor wir weitermachen.«
»Ich mag nichts essen.«
»Eine Kleinigkeit muss sein. Komm, wir gehen rasch in die Pizzeria um die Ecke. Wir haben noch fünf Stunden, bis wir zum Flughafen müssen. Bis dahin haben wir das Gröbste geschafft.«
»Gut.«
Während des Rückflugs wurde mir schwindelig. Ich weiß nicht mehr, wie Robert und ich zu meinem Elternhaus gelangten. Es war bereits mitten in der Nacht, und mir erschien diese Reise nach Stuttgart so unwirklich. Ich lehnte mich an Roberts Schulter und war ihm unendlich dankbar.
Bestatter
Meine Tage verliefen in einem Rhythmus, der mir fremd war. Ich suchte den Schlaf, wann immer ich konnte, und fand ihn manchmal am Nachmittag. Der Schlaf war eine Flucht, solange er traumlos blieb. Jeden Tag hoffte ich auf diesen traumlosen Schlaf. Ich war erleichtert, wenn ich nach einem Mittagsschlaf auf die Uhr schaute und einige Stunden geschafft hatte. Immer wieder schaute ich auf die Zeiger, aber sie hingen träge am Uhrwerk und bewegten sich viel zu langsam. Die Zeit wollte nicht vergehen.
Morgens wachte ich bereits zwischen vier und fünf Uhr auf. Dann schliefen meine Eltern noch, und mir standen einige Stunden des einsamen Grübelns und der Traurigkeit bevor, bis auch sie endlich aufstanden und wir gemeinsam frühstückten. In dieser Zeit wartete ich unbewusst noch immer auf Sarahs Kleinkindgequengel, das nicht kam. Ihr morgendliches Weinen, wenn sie im ersten Moment nicht wusste, wo sie war, und nach mir rief, hatte ich manchmal so klar im Ohr, als käme es aus dem Nebenzimmer.
In den Nächten dämmerte ich meistens nur vor mich hin. Wenn ich irgendwann doch einschlief, folgten wirre Träume, die mich mit pochendem Herzen aufwachen ließen. Und so wartete ich während des Tages darauf, endlich in den Mittagsschlaf flüchten zu können. Die Sehnsucht nach traumlosem Schlaf, bei dem ich der Welt für eine Weile entrückt war und die schmerzhafte Realität fliehen konnte, kreiste stärker in meinem Kopf, als mir recht war. Früher hatte ich mir kaum Gedanken übers Schlafen, Träumen oder gar über Schlaflosigkeit gemacht. Und nun waren der Mangel an Schlaf und die Angst vor Albträumen meine ständigen Begleiter.
Vom Pastor bekam ich die Adresse eines Bestattungsinstituts. Sarah wurde in einer anderen Stadt obduziert und musste nach ihrer Freigabe überführt werden, was zu den Aufgaben eines Bestattungsinstituts gehörte, wie ich erfuhr. Ich musste eines damit beauftragen, außerdem einen Sarg aussuchen und den Ablauf der Trauerfeier regeln.
Ich konnte die Bedeutung des Ganzen nicht wirklich begreifen. Vor einer Woche noch hatte mein Engelchen auf dem Bobby-Car gesessen und war die Einfahrt rauf- und runtergefahren. Und nun sollte ich
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