Am Ende zählt nur das Leben
damit zu tun? Es ist so furchtbar«, sagte er.
»Ja.«
»Katja, sag bitte Bescheid, sobald du weißt, wann die Trauerfeier für Sarah stattfindet. Ich werde hochkommen.«
»Ja, mach ich.«
Ich musste meine Arbeitsstelle kündigen und den Umzug organisieren. Als ich Philipp, meinen Chef in der orthopädischen Praxis, am Telefon hatte, weinte er sofort los. Auch er war ein guter Freund von Cay gewesen. Durch ihn hatte ich vor vier Jahren die Stelle kurzfristig bekommen, obwohl ich vorher noch nie in einer orthopädischen Praxis gearbeitet hatte. Unser lockerer Umgangston hatte anfangs zu Irritationen in der Praxis geführt. Die anderen Arzthelferinnen hatten hinter meinem Rücken über mich geredet und waren schnell verstummt, wenn ich hinzugekommen war. Das hatte mich zutiefst verunsichert. Philipp war zu jenem Zeitpunkt einer der wenigen, die ich in Stuttgart kannte. Ich war fremd, und die Menschen in dieser süddeutschen Großstadt waren irgendwie anders, als ich es aus der norddeutschen Provinz gewohnt war, wo ich ständig auf Bekannte traf und Blicke und Gesten viel besser einordnen konnte. Vielleicht mussten die anderen Arzthelferinnen mich erst näher kennenlernen und meine Art des Umgangs verstehen, hatte ich damals überlegt. Nach Feierabend hatte ich Cay von meinen Problemen erzählt, und erst nachdem ich auf seinen Rat hin meine Verunsicherung in der Praxis angesprochen und meine Kolleginnen aufgeklärt hatte, dass Philipp ein Freund von Cay war, hatte sich die Lage geändert. Von da an bildeten wir ein tolles Team. Am Standesamt waren sie damals alle vollzählig erschienen und hatten uns beglückwünscht. Philipp war ein guter Chef, und ich hatte immer Vertrauen zu ihm gehabt.
Seine Stimme am Telefon versagte, und es war nur noch sein Schluchzen zu hören. Philipp war ein Baum von einem Mann, knapp zwei Meter groß und kräftig. Jetzt weinte er, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Katja, entschuldige. Ich … äh, ich kann das alles nicht begreifen. Es tut mir so wahnsinnig leid. Wenn wir doch nur etwas geahnt hätten. Wie konnte Cay so etwas tun? Wie kann jemand so durchdrehen? Ich verstehe das alles nicht. Wieso hat man ihm nichts angemerkt?«
»Das denke ich auch die ganze Zeit.«
»Wie konnte das nur passieren? Was ist in ihn gefahren?«
»Wenn wir das wüssten.«
Philipp sprach die Gedanken aus, die auch mir durch den Kopf gingen, doch ich war Cays Ehefrau gewesen. Hätte ich da nicht etwas ahnen müssen? Ich horchte ganz genau auf, als Philipp vor der gleichen Ratlosigkeit wie ich kapitulierte. Hatten wir denn alle nichts gewusst? Konnte man eine solche Tat oder zumindest ein solches Durchdrehen erahnen? Was war nur los? Doch sobald ich versuchte, mir sein Verhalten begreiflich zu machen, wurden meine Gedanken von der Trauer und Verzweiflung überdeckt. Mir fehlte die Kraft, über das Warum nachzudenken. Und dann gab es da noch ein anderes, schmerzendes Bohren in mir. Ein Gefühl, das meinen Bauch in Stücke zu reißen drohte und in meinem Kopf ein heißes Pochen verursachte: Schuld! War es meine Schuld gewesen?
»Katja?«
»Ja, ich bin noch dran.«
»In der Praxis bedauern wir alle sehr, dass du nicht mehr zurückkommst. Wir haben gern mit dir zusammengearbeitet. Du warst eine wunderbare Kollegin. Aber selbstverständlich akzeptieren wir deine Entscheidung. Es muss alles ungeheuer schwer für dich sein. Ich kümmere mich um die einfachste Lösung für dich, um deinen Arbeitsvertrag aufzulösen«, sagte er zum Abschied.
»Danke.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Brauchst du Hilfe?«
»Danke. Ich habe liebe Menschen um mich.«
»Das ist gut.«
Wir verabredeten noch, dass er bei der Wohnungsauflösung helfen würde. Er machte Vorschläge, welche Aufgaben er übernehmen könne. Auf Philipp war Verlass.
Während ich kaum in der Lage war, auch nur ein winziges Lächeln zustande zu bringen, waren die Menschen in Stuttgart voller Euphorie und in Hochstimmung. Ein Pulsieren und eine freudige Erwartung lagen in der Luft. Robert und ich übernachteten in einem Hotel mit einem Biergarten im Hinterhof. Die Bänke waren dicht aneinandergereiht, eine Theke und ein Grill standen unter einer großen Linde. Bierkisten und Fässer wurden übereinandergestapelt, bereit, Hunderte feiernder Fußballfans während des Spiels zu versorgen. Girlanden dekorierten den Hof. In der gesamten Stadt wehten Deutschlandfahnen, Häuser und Autos waren in Schwarz, Rot, Gold geschmückt, und im
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