Am Ende zählt nur das Leben
empfanden. Nicole wich von da an nicht mehr von meiner Seite. Stundenlang sprachen wir miteinander und wagten uns sogar an Details heran, die ich nur mit jemandem besprechen konnte, der Cay gut kannte. Wenn Nicole und ich uns erinnerten, wie sie vor knapp drei Jahren als Trauzeugin im Standesamt an meiner Seite gewesen war und ich in eine rosige Zukunft geblickt hatte, dann fiel uns das Begreifen noch schwerer. Damals trug ich Sarah in mir, sie war ein Teil von mir, und nun war sie nicht mehr bei uns. Wie konnte der Mann, den ich damals geheiratet habe, dem wir, dem Nicole und ich, und dem selbstverständlich auch ihr Mann Heiner vertraut hatten, den ich sogar geliebt hatte, zu solch einer Tat fähig sein?
Im letzten Winter waren wir gemeinsam mit unseren Männern und Kindern im Skiurlaub gewesen. Heiner hatte Cay immer als einen seiner besten Freunde betrachtet. Sie kannten sich seit vielen Jahren. Ihr Sohn Noah war zu einem vertrauten Spielkameraden von Sarah geworden. In den letzten Jahren waren wir manches Wochenende gemeinsam verreist. Wir hatten uns in guten wie auch in weniger guten Momenten erlebt. Nun holten meine Freundin und ich die alten Geschichten hervor und versuchten uns einen neuen Reim darauf zu machen. Wer war Cay?
Nicoles Nähe und ihr Mitgefühl ließen mich eine gewisse Erleichterung spüren. Es war unmöglich, mich zu trösten, denn wie tröstet man eine Mutter, die ihre kleine Tochter verloren hat? Aber Nicole tat das Beste: Sie verhielt sich normal, sie war da, und sie stellte sich meiner Untröstlichkeit.
»Wie konnte das alles nur passieren?«, stellte ich meiner Freundin mehrmals in dieser Nacht eine naheliegende und dennoch unmöglich zu beantwortende Frage. Eine Antwort erwartete ich nicht, aber es war eine der quälendsten Fragen. Und dann gab es noch eine andere Frage, die ich nicht aussprechen konnte: Wie sehr musste Sarah in den letzten Minuten gelitten haben?
»Nicole?«
»Ja?«
»Wie … wie konnte das passieren?«
»Darüber grübeln Heiner und ich auch schon die ganze Zeit nach. Übrigens hat Cay uns in den letzten Wochen mehrmals angerufen, in der Zeit, als du hier oben warst. Er hat sich häufiger als sonst gemeldet, und wir hatten den Eindruck, er wäre richtig gut drauf gewesen. Ist doch irgendwie total seltsam: Er ist bester Laune, und kurze Zeit später nimmt er sich das Leben. Hat er denn alles nur gespielt?«
»Mir hatte er auch gesagt, es ginge ihm ganz gut, zumindest bevor ich direkt von Trennung sprach.«
»Ja, er meinte, er genieße sein Strohwitwerdasein. Er wirkte richtig euphorisch und hat uns vom Laufen und Golfen erzählt. Er hat viel Sport getrieben.«
»Ja, genau, mir hat er das auch erzählt. Ich bekam immer stärker das Gefühl, er freue sich, sein altes Leben wiederzuhaben. Sein Leben ohne mich und ohne Sarah.«
»So konnte es einem wirklich vorkommen. Heiner und ich dachten in letzter Zeit immer häufiger, eure Ehe habe wirklich keine Hand und keinen Fuß mehr. Das alles passte nicht mehr. Es herrschte immer so eine gewisse Anspannung zwischen euch. Als ich das letzte Mal mit Cay sprach, war er so gelöst wie früher.«
»Ich verstehe das alles nicht. Wie konnte er Sarah das antun?«
»In den letzten Tagen habe ich alles gelesen, was mir zu dem Thema in die Finger kam. Es war ein erweiterter Suizid : Es soll Menschen geben, die sozusagen zu feige sind, aus dem Leben zu treten, obwohl sie es wollen, die Selbstmordgedanken haben, es aber nicht schaffen, sich umzubringen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Solche Menschen brauchen einen triftigen Grund, sie müssen einen Punkt erreichen, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Sie bringen einen anderen Menschen um, meistens einen nahen Angehörigen, um dann mit der Schuld, die sie auf sich geladen haben, wirklich aus dem Leben treten zu müssen . Vielleicht trifft das auch auf Cay zu. Aus Gründen, die wir nicht kennen, wollte er nicht weiterleben.«
Ich schaute sie an und versuchte es mir vorzustellen. Die Polizei hatte den Begriff »erweiterter Suizid« mehrfach genannt. Er stand im Zusammenhang mit einer depressiven Erkrankung. Aber war es denn nicht so, dass eine Depression sich erst langsam aufbaute? Das hätten wir doch merken müssen! Wir hatten ihn doch meistens alles andere als betrübt erlebt. Wie konnte Cay kurz vor seinem Selbstmord geradezu euphorisch auf seine Freunde wirken? Gut gelaunt und gelöst? Welch seltsame Depression war das? Nicole und ich schauten uns ratlos an.
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