Am Ende zählt nur das Leben
hineinpasst.«
Wenigstens diese Frage konnte ich beantworten. Basti drückte meine Hand. Wir standen vor einem Sarg in Grün mit buntem Blumenschmuck. Der Bestatter gab mir die notwendigen Informationen zu den einzelnen Modellen. Dabei blieb er zurückhaltend und sagte kein Wort zu viel. Der Mann fand genau die richtige Dosis an Informationen, ohne mich zu überfordern. Sein Tonfall war neutral, so als würde ich einen funktionalen Gegenstand aussuchen. Das erleichterte meine Aufgabe. Basti und ich mussten nicht lange über die Wahl reden: Ich entschied mich für den grünen Sarg.
»Möchten Sie Ihre Kleine noch einmal sehen?«, wollte der Bestatter von mir wissen, nachdem ich meine Unterschrift unter ein Dokument gesetzt hatte.
Oh Gott, welch eine Frage? Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Basti drückte noch immer meine Hand. Mein Engelchen sehen? Ständig hatte ich ihr Bild vor Augen, wie sie lachte und vor Freude kreischte, wie sie mit ihrem Bobby-Car über die Hofeinfahrt sauste, wie sie Mama sagte und mir unzählige Fragen stellte, um die Welt zu begreifen. Und ich hatte auch ein anderes Bild vor Augen, ohne etwas dagegen tun zu können: Es zeigte sie in den letzten Minuten ihres Lebens.
»Ich habe Ihre Tochter auch noch nicht gesehen. Wenn ich sie aus der Klinik überführt habe, werde ich Sie benachrichtigen. Dann kann ich beurteilen, ob es vielleicht besser ist, wenn Sie die kleine Sarah so in Erinnerung behalten, wie Sie sie kennen«, sagte der Bestatter.
Ich nickte. Von der Polizei wusste ich, dass Sarah eine ganze Nacht lang in der Badewanne gelegen hatte. Der Bestatter war bedächtig, und ich vertraute ihm. Er werde sich gern um alles kümmern, wenn ich es wünschte, sagte er zum Abschied.
Als Basti und ich wieder auf der Straße waren, atmeten wir tief durch.
»Und nun musst du mich begleiten«, sagte mein alter Freund.
»Was?«
»Wir gehen einkaufen! Du musst mir helfen, ein Hemd auszusuchen. Du weißt doch, ich habe keinen Geschmack.«
»Okay«, sagte ich und versuchte zu grinsen. Wir gingen an schwarz-rot-goldenen Girlanden und Fahnen vorbei durch die Fußgängerzone. Überall wurden Trikots der Nationalmannschaft verkauft. Das deutsche Team stand super im Wettbewerb. Für die meisten Menschen schien es kein anderes Thema zu geben. Jedes Kind kannte die Namen unserer Spieler und wusste, wer wann und wo welche Tore geschossen hat.
Ich trug eine Sonnenbrille und spürte den Wunsch, mich dahinter zu verstecken. Niemand sollte mich sehen, und auch ich wollte niemanden sehen. Basti plauderte, und ich versuchte, ihm zuzuhören. Hauptsache, es geschah etwas und die Zeit verging. In Gedanken lag ich bereits wieder im Bett und zog mir die Decke über den Kopf.
Wenige Tage später rief der Bestatter an und riet mir davon ab, Sarah noch einmal zu sehen. Er meinte es sicher gut. Seit einigen Tagen hatte ich immer das gleiche Bild vor Augen: Sie sitzt im Auto, gibt mir einen letzten Kuss und freut sich darauf, mit ihrem Papa in den Urlaub zu fahren.
Als sie losfuhren, schirmte der Kindersitz ihr Gesichtsfeld ab, aber ich sah noch ihr kleines winkendes Händchen.
Zweimal besuchte mich eine Pastorin im Haus meiner Eltern und bot mir ihren Beistand an. Von irgendwoher nahm sie tröstende Worte. Manche davon erreichten mich. Ich beneidete sie nicht um diese Aufgabe. Unsere Gespräche ließen die Uhr ein wenig schneller laufen, das Zuhören ließ den Tag vergehen, und ich versuchte mir vorzustellen, dass meine Tochter nun in einer anderen Welt war und dort auf mich wartete. Es war schön, wenn mir solche Bilder vor Augen gehalten wurden und ich mich an ihnen festhalten konnte. Am Abend nach dem ersten Besuch der Pastorin fand ich sogar ein wenig Schlaf.
Vierzehn Tage nachdem meiner Sarah das Leben genommen worden war, fand die Trauerfeier statt. Meine Freundin Nicole reiste am Abend zuvor aus Süddeutschland an. Sie war meine Trauzeugin und Sarahs Taufpatin gewesen. Vor einigen Tagen hatten wir ein längeres Telefonat geführt. Sie war fassungslos gewesen, ähnlich wie mein Chef Philipp. Die Reaktionen meines Stuttgarter Freundeskreises unterschieden sich voneinander. Während die einen fassungslos und erschüttert waren, zeigten andere sich ratlos oder sogar wütend. Als Nicole eintraf, lag ich apathisch im Bett und starrte an die Decke. Wir nahmen uns in den Arm und drückten einander. Diese Begrüßung brauchte keine Worte, um den Schmerz und die Fassungslosigkeit auszudrücken, die wir beide
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