Am Ende zählt nur das Leben
Irgendwann fehlte mir die Kraft zum Weiterdenken. Die Trauer um meine Sarah überdeckte alles andere.
Am nächsten Tag begleitete meine Freundin mich zur Friedhofskapelle. Sie war an meiner Seite, als wir gemeinsam mit Robert und Basti als Erste die Kapelle betraten. Mein Blick fiel auf den Sarg. Er vergegenwärtigte die Endgültigkeit dieses Anlasses. Mir schossen Tränen in die Augen und benetzten mein Gesicht. Seit Tagen hatte ich nicht mehr weinen können. Das Gefühl der Leere hatte mir sogar die Tränen genommen, aber nun waren meine Wangen nass, und die Welt verschwamm vor meinen Augen.
Wir standen eine Weile allein im Raum. Ich hatte mir diesen Moment der Ruhe gewünscht, bevor die anderen Trauergäste eintrafen. Es sollte mein letzter und ganz persönlicher Abschied von meiner Kleinen sein. Ich schaute auf die Kränze. Einen hatte Cays Firma im Namen aller Kolleginnen und Kollegen geschickt.
Nach und nach traten meine Angehörigen und Freunde in die Kapelle. Die meisten trugen bunte Kleidung. Anja war auf die Idee dazu gekommen, die ich gern aufgenommen und an die Trauergäste weitergegeben hatte. Meine kleine Tochter wurde bestattet, und sie hatte in ihrem kurzen Leben nie Schwarz getragen. Eine schwarz gekleidete Trauergemeinde musste in den Augen eines Kindes beängstigend wirken. In unserer farbigen Kleidung sahen wir weitgehend normal aus. Nur die traurigen und blassen Mienen deuteten auf den Anlass hin.
Während die Trauergäste sich in ein Kondolenzbuch eintrugen, setzte ich mich in die erste Reihe und schaute auf den Sarg. Louis kam zu mir und gab mir und meinen Angehörigen die Hand. Er sprach sein Beileid aus, auch im Namen aller Angestellten aus Cays Firma, und zeigte den gleichen ratlosen Blick wie kürzlich in Stuttgart. Die Fragen nach dem Warum und die Unbegreiflichkeit standen ihm ins Gesicht geschrieben.
Mein Vater stand auf und stellte sich eine Weile neben die Trauerkränze. Dabei schien er in sich zusammenzufallen. Er knickte regelrecht ein und wirkte ungewohnt klein und zerbrechlich. Sein lichtes graues Haar ließ ihn plötzlich viel älter wirken. Er hatte unsere Sarah so geliebt und sie ihren Opa. Mein Vater hatte sich nie davor gescheut, mit ihr zu spielen, selbst bei Kleinmädchenspielen verlor er niemals die Geduld. Wie er ihr doch Legosteine hingelegt und beim Hausbau geholfen hatte! In den letzten Wochen hat er die Namen sämtlicher rosafarbener Ponys und Plüschtiere gelernt. Nun stand er neben ihrem Sarg und war überwältigt von seiner unendlichen Trauer. Noch während ich ihn anschaute, verschloss ich mich innerlich gänzlich und blieb regungslos auf meinem Stuhl sitzen.
Den Pastor hatte ich gebeten, kein Wort, nicht einmal eine Andeutung, über die Todesursache zu verlieren. Ich wollte nicht, dass Anjas Kinder eine Ahnung davon bekamen. Die beiden waren viel zu jung dafür. Bisher hatten wir ihnen erzählt, dass Sarah und Cay bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Es schien uns die plausibelste Erklärung zu sein, weil beide mit dem Auto weggefahren waren und die Polizei im Haus war, um uns zu benachrichtigen.
Im Grunde genommen hatten wir nicht darüber nachdenken können, was die Kinder erfahren sollten. Dafür war alles viel zu schnell passiert. Ich hatte Angst davor, auch die Kinder könnten nachhaltig unter den tragischen Ereignissen leiden. Es gab doch schon genug Leidtragende, deren Trauer ich wie eine Schuld auf mich lud. Eine Schuld, die ich an diesem Tag nur in der Erstarrung ertragen konnte.
Meine zehnjährige Nichte Nele war von Beginn an misstrauisch und stellte permanent Nachfragen. Sie fragte uns, warum das Auto keine Beule hatte, wenn es einen Unfall gegeben hatte. Wir wussten bald nicht mehr, was wir sagen sollten. In unserer Trauer war es schwer, den richtigen Weg zu finden. Wir wollten nur nicht, dass die Kinder noch weiter verängstigt wurden. Was sollten sie denken, wenn ein Vater sein eigenes Kind tötet? Wenn Cay Sarah getötet hatte? Ich befürchtete, sie würden seelischen Schaden nehmen und das Ganze nicht verkraften. Letztendlich mussten wir einsehen, dass Nele die Version des Unfalls nie geglaubt hat. Während der Trauerrede lauerte sie auf jedes Wort des Pastors.
»Gott hat es nicht gewollt, dass ein kleines Mädchen auf diese Weise von uns geht«, sagte er, und meine Nichte horchte auf. Fast erschien es mir, als suche sie nach einer Spur zur Wahrheit über den Tod ihrer kleinen Cousine. Wenn der Pastor doch bloß keine
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