Am Ende zählt nur das Leben
er hatten immer ein gutes Verhältnis gehabt, ganz so, wie man es sich unter Kollegen wünscht. Auch wir beide hatten uns auf Anhieb gemocht. Louis war nach wie vor ratlos über Cays unfassbare Tat. Als wir einen Moment lang allein waren, bedankte ich mich für seine Hilfe.
»Ich fand es auch schön, dass du zu Sarahs Beerdigung gekommen bist. Nochmals vielen Dank dafür. Es hat mir gutgetan.«
»Mehr konnte ich leider nicht tun. Ich wünschte, es wäre anders gekommen. Wie konnte Cay das nur tun? Warum hat niemand etwas geahnt?«
Ich biss mir auf die Lippen und zuckte mit den Schultern. Ihm ging es nicht anders als allen anderen Freunden und Bekannten. Die Ahnungslosigkeit war quälend. Man zweifelte an der eigenen Wahrnehmung.
»Wie soll man sich solch eine Tat erklären? Cay war manchmal vielleicht etwas ungewöhnlich in seinem Verhalten, aber doch nicht so … wie soll ich sagen … so extrem«, sagte Louis.
»Ich weiß auch nicht mehr. Mir ist das alles ein Rätsel. Ich mache mir solche Vorwürfe.«
»Das musst du nicht. Er muss krank gewesen sein.«
»Das sagen viele: So etwas macht kein normaler Mensch. Aber was heißt das?«
Louis kämpfte gegen seine Ratlosigkeit und fand doch kein geeignetes Mittel. Er wollte verstehen, wie so etwas geschehen konnte, wollte wissen, wie sein Kollege zum Mörder und Selbstmörder geworden war. Aber jetzt wollte er lieber nichts mehr sagen, und auch ich mochte nicht mehr darüber reden.
Anja und Klaus behielten den Überblick, verpackten, stapelten und machten sauber. Die Arbeit funktionierte Hand in Hand. Meine Eltern schienen beinahe erleichtert zu sein, endlich etwas tun zu können.
Immer wenn ich Sarahs Sachen zwischen meiner Kleidung fand, ihr Spielzeug zwischen dem Mobiliar und die gerahmten Fotos an der Wand, verkrampfte sich mein Magen. Ich riss mich zusammen und machte weiter. Gelegentlich musste ich entscheiden, was mit welchen Dingen geschehen sollte, aber alsbald verlor ich den Überblick. Es waren unzählige Kleinigkeiten, von denen ich viele nie wiedersehen wollte. Als Philipp aus der Praxis kam, um mitzuhelfen, waren wir bereits ein gutes Stück vorangekommen. Er trug eine Trauermiene und zeigte zur Begrüßung ein gequältes Lächeln.
»Ich habe dir etwas mitgebracht. Das solltest du sehen, bevor dich jemand darauf anspricht. Ist kürzlich erschienen«, sagte er. An seinem Tonfall konnte ich erkennen, dass es nichts Erfreuliches war. Mein ehemaliger Chef reichte mir eine Zeitung.
Das Foto und die fetten Lettern auf der ersten Seite eines Stuttgarter Blattes schnürten mir die Kehle zu. Trennungsdrama: Versicherungsmakler nimmt seine Tochter mit in den Tod.
Ich war auf dem Bild klar zu erkennen, nur Sarah hatte man unscharf dargestellt. Im Innenteil der Zeitung gab es ein weiteres Foto von uns und eines von Cay, auf dem er strahlend und lachend zu sehen war. Ein Mann, der mitten im Leben stand. Ich schnappte nach Luft.
»Was ist das? Woher kommt das?«
»Das ist vor einigen Tagen erschienen. Vielleicht solltest du dir das Lesen ersparen. Es stimmt ohnehin nicht mal die Hälfte. Merkwürdiges Zeug. Da fragt man sich, woher die das haben«, sagte Philipp.
Ich begann dennoch zu lesen.
Furchtbares Trennungsdrama: Cay Z. (41) aus Stuttgart ertränkte seine Tochter Sarah (2) in der Badewanne, danach erhängte er sich. Die Hintergründe …
In aller Ausführlichkeit wurden Einzelheiten des Dramas beschrieben, von Cays Reservierung des Hotelzimmers bis zu seinen Kosenamen für Sarah. Cay wurde im Artikel als erfolgreich und lebenslustig dargestellt, Details zu seiner sportlichen Laufbahn waren korrekt wiedergegeben. Doch als es um mich ging, beruhte die Geschichte weitgehend auf Verleumdungen.
Ich konnte die Worte kaum aufnehmen, die Buchstaben flimmerten vor meinen Augen, und mein Puls schnellte unter der verdrehten Version unserer Trennungsgeschichte in die Höhe. Ich hatte Cay angeblich gedemütigt. Dieses Wort sprang mich förmlich an. In der Zeitung war von einer Affäre die Rede. Ich sollte offenbar mit einem Nebenbuhler aufgetaucht sein und hätte Geldforderungen gestellt. Der Mund der Leute war ein Schreckenstor.
Das gab mir den Rest. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Mir wurde schlecht. Schuldgefühle ließen mich in ein noch tieferes Loch fallen. Wenn ich mich anders verhalten hätte, dann wäre das Unglück vielleicht nicht passiert. Diese Gedanken rasten mir durch den Kopf, und diese Gedanken hatten sicher auch die Leser
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