Am Ende zählt nur das Leben
Andeutungen macht, flehte ich innerlich. Nele hatte den scharfen Verstand ihrer Mutter, ihr konnte man so leicht nichts vormachen. Wie sollte sie das Unfassbare begreifen, wenn ich doch selbst fassungslos auf den Sarg meiner Tochter schaute und mir nicht vorstellen konnte, dass sie nicht mehr lebte. Meine Tränen waren versiegt, während ich meine Mutter neben mir schluchzen hörte. Robert griff nach meiner Hand, und ich dankte es ihm mit einem Kopfnicken. Wie tröstend es doch war, ihn an der Seite zu haben. Er stand zu mir.
Das alte Leben beenden
Ich wurde immer dünner und blasser. Mehrere Stunden am Stück konnte ich nur noch schlafen, wenn ich eine Tablette nahm und Robert in meiner Nähe war. Er gab mir Ruhe und das Vertrauen in mich selbst, sodass ich meine Gedanken eine Weile ruhen lassen konnte. Meine Mutter weinte fast ununterbrochen und war nicht in der Lage, auch nur für einen Moment abzuschalten. Sie leiden zu sehen verstärkte meinen eigenen Schmerz und machte mich umso hilfloser. Es war nicht viel, was wir angesichts all der Fassungslosigkeit zueinander sagten, und vieles von dem, was sie so beschäftigte, konnte ich anfangs nicht einordnen. Meine Mutter machte sich Vorwürfe. Vorwürfe! Warum? Sie hatte doch nichts damit zu tun. Was hätte sie anders machen sollen? Ich war außerstande, diesen Gefühlen nachzugehen. Sie drückten mich nur noch tiefer in einen dunklen Tunnel hinein, dessen Ende ich nicht mehr sehen konnte.
Meine Schwester Ramona war hochschwanger, und die ganze Familie machte sich Sorgen um ihre Verfassung. Die Freude über ihre Hochzeit und das schöne Fest waren verflogen. Liebe und Leiden, Freude und Trauer lagen viel zu dicht beieinander. Immer häufiger fühlte ich nur noch Leere. Ich starrte aus dem Fenster und betrachtete einen Baum, ohne ihn zu sehen. Meine Welt wurde leerer und leerer, ohne Bäume, ohne Häuser, ohne Straßen und ohne Menschen. Die Leere drohte mich aufzusaugen. Mühsam versuchte ich mich dagegen zu wehren, aber diese Leere wollte mich bereitwillig und mit offenen Armen aufnehmen. Es gab viele Momente, in denen ich ihr gern gefolgt wäre. Ohne Wenn und Aber . Wenn ich meine Mutter betrachtete, dann schien auch sie in diese Leere abzutauchen.
Meine Familie hielt noch enger zusammen, als sie es ohnehin immer tat. Trauer und Ratlosigkeit waren in diesen Tagen die vorherrschenden Gefühle in meiner Umgebung. Wenig später kam noch etwas anderes hinzu: Wut! Sie schlich sich an, man wollte sie zunächst nicht zeigen. Ich sah sie trotzdem, denn auch in mir wütete es, wenngleich dies überlagert war von anderen Gefühlen. Manchmal spürte ich die Wut unbändig in Anja und Robert kochen. Auch wenn sie die Wut auf Cay und seine Taten mühsam zu zügeln versuchten, sobald ich in der Nähe war, entging sie mir nicht. Sie wussten nicht, wohin mit dieser Wut auf den Mann, der unserer kleinen Sarah das Leben genommen und mir damit unendliches Leid zugefügt hatte. Wie konnte er mir das antun?, fragten sie sich, während ich apathisch in Trauer versank und unfähig war, solche Fragen zu stellen. Manchmal fluchten sie, und Anja heulte vor Wut.
Anja war neben Robert diejenige, die mich antrieb, wenn ich nicht aus dem Bett kam und mir die Decke über den Kopf zog. Während ich vor mich hin dämmerte und keine Ahnung hatte, wie ich weiterleben sollte, schien meine Schwester konkrete Vorstellungen und Pläne zu haben.
»Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, bei Sarah zu sein«, sagte ich zu Anja, ohne über den tieferen Sinn dieser Worte nachzudenken. Sie kamen aus meinem Inneren und bildeten einen Satz, der mir häufig durch die Gedanken kreiste. Einfach nur bei ihr sein: egal, wo, und egal, wie. Sie wartete doch sicher irgendwo auf mich. Meine Kleine war ganz allein in einer fremden Welt. Wie sollte sie dort ohne ihre Mama zurechtkommen? Ich wäre so gern bei ihr.
»Katja! So etwas darfst du nicht denken. Wenn du das tust, dann bekommt er seinen Willen, über den Tod hinaus. Das wollte er doch mit seiner schrecklichen Tat erreichen! Er wollte dich am Boden sehen. Nein! Das darf auf keinen Fall passieren! So schlimm es auch für dich klingen mag, Katja: Die Situation ist nicht zu ändern. Die Tragödie ist geschehen, aber dein Leben geht weiter! Lass dich nicht gehen! Schau nach vorn! Du hast doch uns, deine Familie, und du hast Robert, der dich liebt und den du liebst. Lass dich nicht unterkriegen. Du musst stark sein.«
Ich schaute sie verwundert an. War es
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