Am ersten Tag - Roman
Reisebüro hatte ich einen Jeep heimischen Fabrikats gebucht. Der auf unsere Namen ausgestellte Vertrag lag am Schalter der Autovermietung in der Ankunftshalle bereit, und auf dem Parkplatz wartete ein nagelneuer Wagen auf uns. Glücklicherweise verfügte er über ein GPS, denn es ist bei all den für uns unleserlichen Namen nicht leicht, sich in China zurechtzufinden. Ich gab die Koordinaten des Hotels ein, in dem ich ein Zimmer reserviert hatte, und folgte den kleinen Pfeilen, die uns ins Stadtzentrum lotsten.
Der Verkehr war bereits dicht. Plötzlich tauchte zu unserer Rechten die Mauer der Verbotenen Stadt auf, etwas weiter links erhob sich das Denkmal für die Helden des Volkes, dann erreichten wir den Platz des Himmlischen Friedens, der traurige Erinnerungen weckte. Weiter führte der Weg am Nationaltheater mit seiner spektakulären Kuppel vorbei, dessen moderne Architektur im Stadtbild auffiel.
»Bist du müde?«, fragte mich Keira.
»Es geht.«
»Was hältst du davon, wenn wir direkt nach Xi’an weiterfahren würden, um unsere Weiße Pyramide zu suchen?«
Ich war ebenso ungeduldig wie sie, doch da uns tausend
Kilometer von unserem Ziel trennten, würde uns eine Übernachtung in Peking guttun.
Es war unmöglich, der Verbotenen Stadt so nahe zu sein, ohne sie zu besichtigen, und wir mussten zuerst einmal wach bleiben, um gegen den Jetlag anzukämpfen. Wir gingen nur kurz in unser Hotel, um uns umzuziehen. Vom Zimmer aus hörte ich im Bad, wo Keira duschte, das Wasser rauschen, und das machte mich plötzlich glücklich und vertrieb alle Angstgefühle, die mich fast auf die Reise hätten verzichten lassen.
»Bist du da?«, fragte sie durch die Tür.
»Ja, warum?«
»Ach, nichts …«
Da ich befürchtete, wir könnten uns in dem Gewirr von Straßen, die alle gleich aussahen, verlaufen, nahmen wir ein Taxi zum Jingshan Park. Noch nie hatte ich einen so schönen Rosengarten gesehen. Vor uns führte eine Steinbrücke über ein Wasserbecken. Wie täglich Hunderte anderer Touristen liefen wir darüber, wie Hunderte anderer Touristen spazierten wir die Wege entlang. Keira hakte sich bei mir unter.
»Ich bin glücklich, hier zu sein«, sagte sie.
Wenn man die Zeit anhalten könnte, hätte ich es in genau diesem Moment getan. Wenn man sie zurückdrehen könnte, dann hin zu jenem Augenblick vor dem weißen Rosenbusch im Jingshan-Park.
Wir betraten die Verbotene Stadt durch das Nordtor. Es würde Hunderte von Seiten in Anspruch nehmen, wollte ich all die Schönheiten beschreiben, die sich unserem Auge darboten: Die alten Paläste, in denen so viele Dynastien einander abgelöst hatten, die kaiserlichen Gärten, durch die einst die Kurtisanen wandelten, den Himmelstempel, die ungewöhnlich geschwungenen Dächer, auf denen vergoldete Drachen Feuer zu speien schienen und bronzene Reiher hockten, den Kopf
gen Himmel gehoben, erstarrt in ihrer Ewigkeit, und die Marmortreppen, fein gearbeitet wie Spitze.
Auf einer Bank in der Nähe eines hohen Baums saß ein betagtes chinesisches Paar, das aus einem uns unbekannten Grund herzlich lachte. Wir verstanden nicht, was sie sich sagten, und schon gar nicht, worüber sie so lachten, doch ihre Blicke ließen ihre Verbundenheit erahnen. Ich möchte glauben, dass sie noch heute auf diese Bank in der Verbotenen Stadt zurückkehren und zusammen lachen.
Nach ein paar Stunden war die Müdigkeit doch stärker als wir. Keira konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, und mir ging es kaum besser. Also kehrten wir ins Hotel zurück, wo wir bis zum nächsten Morgen schliefen. Nach einem schnellen Frühstück brachen wir auf. Wir hatten einen langen Weg vor uns, und ich bezweifelte, dass wir ihn in einem Tag würden zurücklegen können.
Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, fuhren wir über das Land. Die Ebene zog sich schier endlos hin, und die Berge, die wir in der Ferne sahen, schienen nicht näher zu kommen. So legten wir dreihundert Kilometer zurück, von Zeit zu Zeit passierten wir Industriestädte, die aus dem Nichts entstanden waren und die Monotonie der Landschaft unterbrachen. In Shijiazhuang hielten wir zum Tanken an. Keira beschloss, ein Sandwich zu kaufen, das einem Hotdog glich, nur dass man nicht erkennen konnte, welche Art Wurst es enthielt. Ich wollte nicht probieren, sie aber genoss jeden Bissen derart demonstrativ, dass ich sie der Übertreibung verdächtigte. Fünfzig Kilometer später wurde meine Beifahrerin weiß wie ein Leintuch, und ich musste
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