Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
Vom Netzwerk:
schnellstens am Straßenrand anhalten. Keira lief hinter einen Busch und beugte sich vor. Zehn Minuten später stieg sie wieder ein und verbat sich jeglichen Kommentar.

    Um gegen die Übelkeit anzukämpfen, über deren Ursache ich versprochen hatte zu schweigen, setzte sie sich ans Steuer. In Yangquan - wir waren inzwischen bei Kilometer vierhundert - entdeckte Keira auf einem Hügel ein kleines Steindorf, das verlassen schien. Sie wollte unbedingt in den Feldweg einbiegen, der dorthin führte. Auch ich hatte genug vom Asphalt und war der Meinung, dass es Zeit wurde, den Allradantrieb unsers Jeeps zu nutzen.
    Der holprige Pfad führte uns zu dem Weiler. Keira hatte recht, hier wohnte niemand mehr. Die meisten Häuser waren verfallen, auch wenn einige Dächer überdauert hatten. Die düstere Atmosphäre war nicht sehr einladend, doch Keira lief schon durch die alten Gassen, sodass ich keine andere Wahl hatte, als ihr bei der Besichtigung dieses Geisterdorfs zu folgen. In der Mitte des ehemaligen Dorfplatzes standen eine Tränke und ein großes Gebäude aus Holz, das offenbar dem Ansturm der Zeit besser standgehalten hatte. Keira setzte sich auf dessen Treppe.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Ein alter konfuzianischer Tempel. Die Schüler des Konfuzius waren zahlreich im alten China. Die Weisheit des Meisters hat viele Generationen geleitet.«
    »Gehen wir hinein?«, fragte ich.
    Keira erhob sich und trat auf die Tür zu. Man brauchte, um sie zu öffnen, nur leicht dagegenzudrücken. Das Innere war leer, zwischen den vielen Gräsern konnte man vereinzelte Steine erkennen.
    »Was wohl dazu geführt hat, dass das Dorf verlassen wurde?«
    »Vielleicht ist die Quelle versiegt, oder eine Epidemie hat die Menschen dezimiert, ich weiß es nicht. Diese Stätte ist sicher tausend Jahre alt. Wie schade, dass sie in diesem Zustand ist.«

    Keiras Aufmerksamkeit wurde von einem kleinen Rechteck am Ende des Tempels angezogen. Sie kniete sich hin und begann vorsichtig, mit bloßen Händen zu graben. Mit der rechten legte sie behutsam die Steine frei und schob sie mit der linken zur Seite. Ich hätte sämtliche Gebote des Konfuzius in chronologischer Reihenfolge hersagen können, sie hätte gar nicht zugehört.
    »Darf ich fragen, was du da tust?«
    »Das wirst du vielleicht in Kürze sehen.«
    Und plötzlich kam in der Erde etwas zum Vorschein, das die Form einer Schale hatte. Keira ließ sich im Schneidersitz nieder und begann, das Gefäß von dem getrockneten Schlamm zu befreien, in dem es verborgen gewesen war.
    »Bitte sehr!«, erklärte sie schließlich strahlend und zeigte mir die Schale.
    Ich war verblüfft nicht nur ob der Schönheit des Objekts, sondern auch angesichts der Art und Weise, wie sie aus der Vergessenheit befördert worden war.
    »Wie hast du das gemacht? Wie konntest du wissen, dass sie da war?«
    »Ich verfüge über die besondere Gabe, Stecknadeln in Heuhaufen zu finden«, erklärte sie und richtete sich auf, »selbst in China, beruhigt dich das?«
    Ich musste sie lange anflehen, bis sie bereit war, mir ihr Geheimnis zu enthüllen. An der Stelle, an der Keira zu graben begonnen hatte, war das Gras spärlicher und weniger grün als ringsumher gewesen.
    »Das deutet meistens darauf hin, dass unter der Erde etwas verborgen ist«, verriet sie mir.
    Keira entfernte den letzten Schmutz von der Schale.
    »Die ist uralt«, sagte sie und stellte sie vorsichtig auf einen Stein.

    »Lässt du sie hier?«
    »Sie gehört nicht uns, sondern zur Dorfgeschichte. Irgendjemand wird sie finden und damit tun, was ihm gut scheint. Komm, wir haben genug andere Heuhaufen zu durchsuchen!«
     
    In Linfen veränderte sich die Landschaft. Die Stadt war eine der am stärksten verschmutzten der Welt, und der Himmel, der von seiner stinkenden Giftwolke verhüllt wurde, hatte plötzlich die Farbe von Bernstein. Ich dachte an die klaren Nächte auf dem Atacama-Hochplateau. War es möglich, dass sich diese beiden Orte auf demselben Planeten befanden? Welchem Wahnsinn war der Mensch verfallen, dass er seine Umwelt derart verseuchte? Welches Beispiel würde sich in der Zukunft durchsetzen, das vom Atacama-Hochplateau oder das von Linfen? Wir schlossen die Fenster, Keira hustete ständig, und meine Augen brannten so sehr, dass ich die Straße kaum mehr klar sehen konnte.
    »Grauenvoll, dieser Gestank«, beklagte sich Keira, von einem erneuten Hustenanfall geschüttelt.
    Sie hatte sich zum Rücksitz umgedreht und suchte in ihrer Tasche nach

Weitere Kostenlose Bücher