Am ersten Tag - Roman
wehmütig.«
Keira sah ihre Schwester wortlos an.
»Und jedes Mal, wenn ich sie benutze, habe ich das Gefühl, er säße mir gegenüber und würde mich anlächeln. Albern, was?«
»Nein, da muss ich dir auch etwas gestehen, ich habe eines seiner Hemden behalten; von Zeit zu Zeit trage ich es und habe denselben Eindruck wie du. Sobald ich es anziehe, kommt es mir vor, als würde ich den Tag mit ihm verbringen.«
»Glaubst du, er wäre stolz auf uns?«
»Zwei unverheiratete Töchter, beide kinderlos, die mit über dreißig dieselbe Wohnung teilen? Ich denke, falls es das Paradies gibt, muss es ein Blick in die Hölle sein, wenn er sieht, was aus uns geworden ist.«
»Papa fehlt mir, Keira, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr, und Maman auch.«
»Wollen wir nicht über etwas anderes reden, Jeanne?«
»Gehst du wirklich nach Äthiopien zurück?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, was ich nächste Woche mache. Und ich muss schnell etwas finden, sonst wirst du mich bald aushalten müssen.«
»Was ich dir jetzt sage, mag dir egoistisch erscheinen, aber ich wünsche mir so sehr, du würdest bleiben. Papa und Maman fehlen uns, aber das ist der Lauf der Dinge, außerdem möchte ich glauben, dass sie vereint sind; aber wir beide leben, und wenn du so weit weg bist, verlieren wir zu viel Zeit.«
»Ich weiß, Jeanne, aber früher oder später wirst du einen anderen Jérôme finden, und diesmal wird es der Richtige sein. Du wirst Kinder haben, und dann kommt Tante Keira, wenn sie von einer Mission zurückkehrt, zu Besuch und erzählt ihnen viele schöne Geschichten. Außerdem bist du meine Schwester, und auch wenn ich weit weg bin, denke ich an dich. Und ich verspreche dir, falls ich wieder aufbreche, rufe ich dich so oft wie möglich an, und nicht nur um Banalitäten mit dir auszutauschen.«
»Du hast ganz recht, wechseln wir das Thema, das hätte ich nicht sagen sollen. Ich möchte, dass du dort lebst, wo du glücklich bist. Aber jetzt lassen wir mal die Gemütszustände beiseite und gehen pragmatisch vor. Was würdest du brauchen, um ins Omo-Tal zurückzukehren?«
»Ein Team, Material und Geld, um das erste zu bezahlen und das zweite zu kaufen, wie du siehst nur Peanuts.«
»Wie viel brauchst du?«
»Mehr als dein Bausparvertrag hergibt, große Schwester.«
»Warum versuchst du nicht, in der Privatwirtschaft eine Finanzierung zu finden?«
»Weil Archäologen nur selten in T-Shirts mit dem Label von Waschmittel- und Softdrinkfirmen oder irgendwelchen Banken vor einer Kamera herumlaufen. Mäzene sind also rar, wenn nicht gar unauftreibbar. Aber das wäre vielleicht eine Idee, ich
könnte versuchen, eine Rallye ins Leben zu rufen. Eine Art Wetthüpfen mit Kartoffelsack und Schaufel. Wer als Erster einen Knochen ausbuddelt, gewinnt ein Jahresabo für eine Hundezeitschrift.«
»Zieh doch nicht immer alles ins Lächerliche. Was ich sage, ist gar nicht so dumm. Sobald ich etwas vorschlage, antwortest du sofort ›Unmöglich!‹, das ist auf die Dauer anstrengend. Wenn du nun deine Arbeiten bei bestimmten Stiftungen einreichen würdest, hättest du vielleicht eine Chance. Man kann ja nie wissen.«
»Meine Forschungen sind den Leuten völlig egal, Jeanne. Wer wäre bereit, auch nur einen Cent auf mich zu setzen?«
»Ich glaube, dir fehlt es an Selbstvertrauen. Du hast drei Jahre an einer Ausgrabungsstätte verbracht und seitenlange Berichte geschrieben. Ich habe deine Diplomarbeit gelesen, und wenn ich die Mittel hätte, würde ich sofort deine nächste Expedition finanzieren.«
»Aber du bist meine Schwester! Das ist nett von dir, Jeanne, doch deine Idee ist reines Wunschdenken. Trotzdem danke, dass du mich einen Moment lang hast träumen lassen.«
»Statt deine Tage zu vertrödeln, tätest du besser daran, im Internet nach französischen und europäischen Organisationen zu suchen, die sich eventuell für deine Arbeit interessieren könnten.«
»Ich habe keine Lust, meine Zeit zu vergeuden!«
»Was hast du in den letzten Tagen mit Ivory im Museum getrieben?«
»Ein seltsamer Typ, was? Er ist fasziniert von meinem Anhänger, und ich muss gestehen, dass es ihm gelungen ist, auch meine Neugier zu wecken. Wir haben erfolglos versucht, ihn zu datieren. Er ist dennoch fest davon überzeugt, dass er sehr alt ist, doch nichts beweist, ob er recht oder unrecht hat.«
»Sein Instinkt?«
»Bei allem Respekt, den ich ihm entgegenbringe, das reicht nicht aus.«
»Stimmt, dein Anhänger sieht
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