Am ersten Tag - Roman
Handzeichen.
»Ich habe mir erlaubt, zwei Stück Maronenkuchen zu bestellen. Der ist hier ganz hervorragend, ich hoffe, Sie mögen Maronen?«
»Ja«, antwortete Keira, »aber ich habe noch nicht zu Mittag gegessen und werde erwartet.«
Ivory verzog enttäuscht das Gesicht.
»Haben Sie mich herbestellt, damit ich den Kuchen probiere?«
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte Sie sehen, bevor ich fahre.«
»Warum diese Überstürzung?«
»Der Tod dieses Freundes, von dem ich Ihnen erzählt habe, wissen Sie?«
»Wie ist er …«
»Ein Autounfall. Offenbar ist er am Steuer eingeschlafen, und ich habe das Gefühl, er war unterwegs, um mich zu besuchen.«
»Ohne Ihnen Bescheid zu geben?«
»Das ist im Allgemeinen so, wenn man jemanden überraschen will.«
»Sie hatten also eine sehr enge Beziehung?«
»Ich habe ihn sehr geschätzt, aber nicht wirklich gemocht, er war extrem von sich überzeugt, um nicht zu sagen überheblich.«
»Ich verstehe Sie nicht, Ivory, Sie haben gesagt, er sei ein guter Freund gewesen.«
»Ich habe mich nie über den Tod von irgendjemandem gefreut, aber Freund oder Feind, wer kann das heutzutage schon noch mit Sicherheit sagen? Es ist eine der schwierigsten Übungen im Leben, seine Freunde zu erkennen.«
»Ivory, worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Keira und sah auf ihre Uhr.
»Sagen Sie Ihr Essen ab oder verschieben Sie es zumindest, ich muss wirklich mit Ihnen reden.«
»Aber worüber denn?«
»Ich habe allen Grund zu der Annahme, dass der Mann, der heute Nacht gestorben ist, sich wegen Ihres Anhängers auf den Weg gemacht hat. Keira, Sie können beschließen, alles zu vergessen, was ich Ihnen jetzt erzähle. Es steht Ihnen frei zu denken, dass ich ein komischer alter Kauz bin, der sich langweilt und mit Hirngespinsten seinem Leben Würze verleihen will, aber ich muss Ihnen jetzt gestehen, dass ich Ihnen hinsichtlich dieses Anhängers nicht alles gesagt habe.«
»Was haben Sie mir verschwiegen?«
Die Kellnerin brachte zwei eindrucksvolle Portionen Kuchen, reichlich mit Sahne bedeckt. Ivory wartete, bis sie sich entfernt hatte, ehe er fortfuhr:
»Es gibt ein zweites.«
»Ein zweites was?«
»Ein anderes, ebenso perfektes Objekt wie das Ihre. Und selbst wenn die Form etwas anders ist, auch in seinem Fall hat keine Untersuchung und keine Analyse zu einer Datierung geführt.«
»Haben Sie es gesehen?«
»Ich habe es vor sehr langer Zeit sogar in der Hand gehalten. Ich war vermutlich so alt wie Sie jetzt, wenn Sie verstehen …«
»Und wo befindet sich dieser Zwillingsbruder?«
Statt zu antworten, widmete sich Ivory seinem Kuchen.
»Warum messen Sie diesem Stein eine solche Bedeutung bei?«, beharrte Keira.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass es sich nicht um einen Stein handelt, vermutlich eher um eine Legierung verschiedener Metalle, aber darum geht es auch nicht. Kennen Sie die Legende von Tikkun Olam ?«
»Nein, davon habe ich nie gehört.«
»Es ist keine Legende im eigentlichen Sinne, sondern eher eine biblische Erzählung aus dem Alten Testament. Das Interessante an der Heiligen Schrift ist nicht immer, was sie sagt, denn die Interpretationen sind oft subjektiv und im Laufe der Zeit von den Menschen verfälscht. Nein, das Spannendste ist zu begreifen, warum und aufgrund welcher Ereignisse es geschrieben wurde.«
»Und was war das bei Tikkun Olam ?«
»Die Schrift sagt uns, vor langer, langer Zeit sei die Welt in mehrere Stücke getrennt worden, und es sei die Aufgabe jedes Einzelnen, die fehlenden Teile zu suchen, um sie erneut zusammenzufügen. Erst wenn der Mensch diese Pflicht erfüllt habe, sei die Welt, in der er lebt, wieder perfekt.«
»Und was hat das mit meinem Anhänger zu tun?«
»Alles hängt davon ab, welche Bedeutung man dem Wort ›Welt‹ gibt. Aber stellen Sie sich einmal vor, Ihr Anhänger wäre ein Teil dieser Welt?«
Keira sah den Professor gebannt an.
»Jener Freund, der heute Nacht gestorben ist, kam, um mir die Order zu erteilen, Ihnen nichts von alldem zu enthüllen. Und vermutlich suchte er auch nach einer Möglichkeit, Ihren Anhänger in seinen Besitz zu bringen.«
»Wollen Sie damit andeuten, er wäre ermordet worden?«
»Keira, ob Sie diesem Objekt nun Bedeutung beimessen wollen oder nicht, ich flehe Sie an, gut darauf aufzupassen. Es
ist nicht auszuschließen, dass man versuchen wird, es Ihnen zu entwenden.«
»Wer ist ›man‹?«
»Das spielt keine Rolle. Konzentrieren Sie sich auf das, was ich Ihnen sage.«
»Aber ich
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