Am ersten Tag - Roman
lehrte ihr Vater sie, bestimmte Sternbilder zu erkennen: Kassiopeia, Antares und VV Cephei waren seine liebsten. Sie erkannte den Schwan, die Leier und Herkules, und als sie nach der Corona Borealis und dem Bärenhüter suchte, riss sie zum zweiten Mal an diesem Abend erstaunt die Augen auf.
»Das ist unmöglich«, murmelte sie, die Nase an die Scheibe gedrückt.
Sie öffnete die Fenstertür, trat auf den winzigen Balkon und reckte den Hals, so als könnten wenige Zentimeter sie den Sternen näher bringen.
»Das kann nicht sein, das ist völlig verrückt! Oder aber ich bin dabei, den Verstand zu verlieren.«
»Wenn du Selbstgespräche führst, bist du jedenfalls auf dem besten Weg.«
Keira zuckte zusammen, Jeanne kam zu ihr und zündete sich auf die Brüstung gestützt eine Zigarette an.
»Rauchst du jetzt?«
»Manchmal. Tut mir leid wegen vorhin, ich hätte nichts sagen sollen. Aber es hat mich derart aufgebracht, wie er sich in Szene gesetzt hat. Hörst du mir zu?«
»Ja, ja«, antwortete Keira abwesend.
»Stimmt es, dass die Neandertaler alle bisexuell waren?«
»Mag sein«, gab Keira zurück und starrte weiter zum Himmel.
»Und dass sie sich vor allem von Dinosauriermilch ernährt haben, aber erst lernen mussten, diese zu melken?«
»Vermutlich …«
»Keira!«
Keira fuhr zusammen.
»Was?«
»Du hörst überhaupt nicht zu, was ich dir sage. Was beschäftigt dich?«
»Nichts! Überhaupt nichts. Lass uns reingehen, es ist kalt«, antwortete die Archäologin und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Die beiden Schwestern legten sich in Jeannes großes Bett.
»Das mit den Neandertalern war nicht dein Ernst oder?«
»Was ist mit den Neandertalern?«
»Nein, vergiss es, lass uns schlafen«, entgegnete Jeanne und drehte sich um.
»Dann hör auf, dich dauernd hin- und herzuwälzen. Jeanne?«
»Was noch?«
»Danke für alles, was du tust!«
»Sagst du das, damit ich noch mehr Gewissensbisse wegen der Sache mit Max habe?«
»Ein bisschen.«
Am nächsten Tag eilte Keira an den Computer, sobald ihre Schwester die Wohnung verlassen hatte, doch an diesem Morgen weichten ihre Recherchen von ihrer gewöhnlichen Arbeit ab. Sie suchte im Internet nach Himmelskarten. Und jeder Buchstabe, den sie auf der Tastatur tippte, erschien auf einem Hunderte von Kilometern entfernten Bildschirm. Jede Information, jede Seite, die sie konsultierte, wurde registriert. Am Ende der Woche druckte ein Angestellter an einem Schreibtisch in Amsterdam ein Dossier über ihre Nachforschungen aus. Nachdem er noch einmal das letzte Blatt, das aus dem Drucker gekommen war, überflogen hatte, wählte er eine Telefonnummer.
»Ich denke, der Bericht, den ich gerade abgeschlossen habe, dürfte Sie interessieren.«
»Zu welchem Thema?«, fragte sein Gesprächspartner.
»Es geht um die französische Archäologin.«
»Kommen Sie sofort in mein Büro«, sagte die Stimme aus dem Hörer.
London
»Wie fühlen Sie sich?«
»Besser als Sie, Walter.«
Es war der Vorabend des großen Tages. Die mündliche Präsentation fand in einem Vorort von London statt, und Walter hatte beschlossen, nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel zu vertrauen und noch weniger auf mein altes Auto. Was Erstere betraf, so konnte ich seine Vorbehalte verstehen. Es kam leider häufig vor, dass U-Bahnen und Züge stillstanden, mit der einfachen Begründung, das Material sei veraltet, was immer wieder zu Pannen führe. Also übernachteten wir auf Walters unumstößlichen Beschluss hin in einem Hotel in den Docklands. Von dort aus brauchten wir nur die Straße zu überqueren, um vor den Mitgliedern der Jury aufzutreten. Die Präsentation fand im obersten Stockwerk eines am Cabot Square gelegenen Hochhauses statt.
Ironie des Schicksals, wir befanden uns ganz in der Nähe der Gemeinde Greenwich und ihres berühmten Observatoriums. Auf dieser Seite der Themse, auf einem dem Fluss abgerungenen Landstück, war ein modernes Viertel entstanden, dessen Gebäude aus Unmengen von Beton, Stahl und Glas bestanden und einander an Höhe zu überbieten versuchten. Am späten Nachmittag war es mir gelungen, meinen Freund zu einem Spaziergang auf der Isle of Dogs zu überreden, und von dort aus begaben wir uns zu der Glaskuppel, die den Eingang zum Greenwich-Tunnel beherbergte. So durchquerten wir zu Fuß
die Themse fünfzehn Meter unter der Erde und kamen am anderen Ende gegenüber des verkohlten Wracks der Cutty Sark wieder ans Licht. Der alte Klipper, letzter Zeuge der
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