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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Gute.«
     
    Ich vernahm das Knarren jeder einzelnen Stufe, während sie die Treppe hinunterging, dann das Quietschen der Haustür, die sich hinter ihr schloss, und schließlich durch das geöffnete Fenster das Geräusch ihrer sich entfernenden Schritte. Sehr viel später erst sollte ich erfahren, dass sie einige Meter weiter stehen blieb und sich auf eine kleine Mauer setzte. Sie wartete auf das Morgengrauen und war mehrmals drauf und dran, in jenes Zimmer zurückzukehren, in dem ich vergebens einzuschlafen versuchte, doch dann kam ein Taxi vorbei.

    »Ist es möglich, dass eine fünfzehn Jahre alte Narbe plötzlich aufbricht wie eine platzende Naht? Lassen sich die Spuren vergangener Liebe niemals auslöschen?«, fragte ich Walter am Telefon.
    »Sie stellen diese Frage einem Idioten, der hoffnungslos in eine Frau verliebt ist, ohne jemals den Mut gefunden zu haben, es ihr zu gestehen! Zwei Gedanken drängen sich mir auf, die ich Ihnen sogleich mitteilen möchte: Erstens bezweifele ich in Anbetracht dessen, was ich Ihnen soeben gesagt habe, der geeignete Ansprechpartner zu sein. Zweitens - und eingedenk dessen, was ich Ihnen soeben gesagt habe - bin ich wohl auch nicht in der Lage, Sie für Ihre Unfähigkeit zu rügen, besagte Dame zum Bleiben zu bewegen. Ach, warten Sie, mir kommt da noch ein dritter Gedanke: Wenn Sie beschließen, sich das Wochenende zu verderben, gehen Sie wirklich aufs Ganze! Nicht genug damit, dass Sie sich den Preis vor der Nase wegschnappen lassen, nein, Sie verpatzen auch noch das unerwartete Wiedersehen, stramme Leistung!«
    »Danke, Walter.«
     
    Natürlich hatte ich nicht wieder einschlafen können, wie sehr ich mich auch zwang, möglichst lange im Bett zu bleiben, ohne die Augen zu öffnen, ohne auf die Geräusche ringsumher zu lauschen. Und während ich so dalag, malte ich mir eine Geschichte aus. Eine Geschichte, in der Keira nach unten in die Küche gegangen wäre, um uns einen Tee zu kochen. Wir hätten zusammen gefrühstückt und beraten, was wir am Tag unternehmen würden. London hätte uns gehört. Ich hätte den Touristen gespielt, der zum ersten Mal diese Stadt besichtigt, und mich für die lebhaften Farben der Häuser begeistert, die sich derart vom grauen Himmel abheben. Ich hätte mit ihr all die uns bekannten Orte aufgesucht, als wäre es das erste
Mal gewesen. Am nächsten Tag hätten wir unseren Spaziergang im langsamen Rhythmus eines Sonntags fortgesetzt. Unsere Hände hätten sich nicht mehr voneinander gelöst, und was hätte es schon ausgemacht, wenn Keira in dieser Geschichte am nächsten Tag abgereist wäre. Jeder durchlebte Augenblick hatte sich gelohnt.
    In meinen Laken hing noch ihr Geruch. Keira hatte nicht gelogen. Auf dem Nachtkästchen fand ich einen kleinen Zettel, auf dem nur ein einziges Wort stand. »Danke.«
    Am Mittag rief ich Walter zu Hilfe, und der Freund, der er inzwischen für mich geworden war, klingelte eine halbe Stunde später an meiner Tür.
    »Ich hätte Ihnen, um Sie auf andere Gedanken zu bringen, gerne eine gute Nachricht überbracht, doch ich habe keine, und außerdem soll es laut Wetterbericht wieder regnen. In Anbetracht dessen sollten Sie sich vielleicht anziehen, denn hier in Ihrem grässlichen Pyjama Wurzeln zu schlagen, scheint mir wenig ratsam, und der Anblick Ihrer Waden ist nicht eben angetan, mir den Tag zu verschönern.«
    Während ich mir einen Kaffee kochte, ging Walter in den ersten Stock, um, wie er sich ausdrückte, »das Schlafzimmer zu lüften«. Kurz darauf erschien er mit heiterer Miene in der Küche.
    »Jetzt habe ich doch eine gute Nachricht für Sie. Das heißt, es wird sich noch erweisen, ob sie wirklich so gut ist.«
    Und er hielt stolz die Halskette in die Luft, die Keira am Vortag getragen hatte.
    »Ach, und sagen Sie bitte nichts«, setzte er hinzu. »Wenn Sie in Ihrem Alter nicht wissen, was eine freudsche Fehlleistung ist, dann ist Ihr Fall noch hoffnungsloser als der meine. Eine Frau, die ein Schmuckstück bei einem Mann zurücklässt, kann nur eine von zwei Absichten hegen. Primo: dass eine andere
Frau es entdeckt und daraufhin eine heftige Szene macht. Aber so ungeschickt, wie Sie sich anstellen, haben Sie ihr bestimmt zehnmal versichert, dass es niemanden in Ihrem Leben gibt.«
    »Und die zweite?«, erkundigte ich mich.
    »Dass sie vorhat, an den Ort des Verbrechens zurückzukehren!«
    »Scheint Ihnen die Idee, dass sie zerstreut war und den Schmuck einfach nur vergessen hat, nicht simpler?«, fragte ich

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