Am ersten Tag - Roman
der Mauer. Eine malvenfarbene Glyzinie kletterte die alten Steine hinauf und spendete mit ihrem Blattwerk ein wenig Schatten. Keira setzte sich auf die Grabplatte und strich mit dem Finger über die eingemeißelten Lettern. Das Blattgold darauf war fast ganz verschwunden, gelbliches Moos wuchs auf der Stele.
»Ich weiß, ich bin lange, viel zu lange nicht gekommen, doch ich muss nicht an deinem Grab sein, um an dich zu denken. Du hast mir damals gesagt, der Kummer über einen Verlust weiche mit der Zeit den glücklichen Erinnerungen. Wann wirst du mir endlich nicht mehr so fehlen? Wie gerne würde ich unsere Gespräche wiederaufnehmen, dir, wie einst, tausend Fragen stellen und den tausend Antworten lauschen, die du mir gabst, selbst wenn du sie nur erfunden hast. Ich möchte noch meine Hand in deiner spüren, bei Ebbe an deiner Seite den Strand entlangspazieren. Ich habe mich heute Morgen mit Jeanne gestritten. Es war wie immer meine Schuld. Sie war wütend, weil ich sie gestern Abend nicht angerufen habe, um ihr die freudige Botschaft zu verkünden. Gestern Abend wärest du stolz auf mich gewesen, Papa, stolz auf deine Tochter. Ich habe meine Arbeit bei einer Stiftung eingereicht und den ersten Preis gewonnen, zwar zusammen mit jemand anderem, doch du wärst trotzdem stolz gewesen. Du hattest ohnehin immer Sinn fürs Teilen. Ich möchte, dass du zurückkommst, mich in die Arme nimmst und dass wir wie damals zum kleinen Hafen schlendern. Ich möchte deine Stimme hören, deinen beruhigenden Blick auf mir spüren wie früher.«
Keira verstummte einen Augenblick, weil sie weinen musste.
»Wenn du wüsstest, wie sehr ich mir vorwerfe, dich zu Lebzeiten nicht öfter besucht zu haben. Wenn du wüsstest, wie sehr ich es bereue. Doch ich habe es nicht getan, und ich höre dich sagen, ich müsse mein eigenes Leben leben, aber du warst Teil meines Lebens, Papa. Ich wollte nicht, dass du verärgert bist, und so habe ich mich mit Jeanne versöhnt. Ich habe deinen Rat befolgt und sie noch zweimal angerufen, um mich zu entschuldigen. Und dann habe ich mich erneut mit ihr gestritten, als ich ihr gesagt habe, dass ich dich besuchen würde. Sie wäre auch gerne hier gewesen. Du fehlst uns beiden. Weißt du, mit diesem Preis, den ich gewonnen habe, werde ich erneut nach Äthiopien reisen können. Das wollte ich dir sagen, denn falls du mich besuchen willst - ich werde im Omo-Tal sein. Den Weg brauche ich dir ja nicht zu sagen, von da, wo du bist, siehst du ihn, da bin ich ganz sicher. Komm mit dem Wind, aber blase nicht zu heftig, aber komm, ich bitte dich. Ich übe einen Beruf aus, den ich liebe, den Beruf, für den du mich motiviert hast zu studieren, doch ich bin allein, und du fehlst mir. Hast du dich dort oben mit Maman versöhnt?«
Keira beugte sich nach vorne, um den Stein zu küssen. Dann erhob sie sich und verließ den Friedhof mit hängenden Schultern. Auf dem Weg zum kleinen Hafen von St. Mawes rief sie Jeanne an, und als sie in Tränen ausbrach, tröstete ihre Schwester sie.
Als Keira wieder in Paris war, feierten die beiden Schwestern ihren Erfolg. Zwei ausgelassene Festabende; der zweite endete gegen fünf Uhr morgens, als der soziale Notdienst Jeanne zur Vernunft bringen musste. Reichlich beschwipst hatte sie sich in den Kopf gesetzt, sich mit einem gewissen Jules, seines Zeichens
Stadtstreicher, zu verloben, der in einer Ladenpassage an den Champs Elysées Quartier bezogen hatte. Die längste Erinnerung, die Keira von diesen beiden nächtlichen Feiern blieb, war der achtundvierzig Stunden andauernde Kater.
Es gibt Tage, erhellt von kleinen Dingen, von Nichtigkeiten, die einen ungemein glücklich machen: ein Nachmittag auf dem Flohmarkt, wenn man bei einem Trödler ein altes Spielzeug aus Kindertagen entdeckt, eine Hand, die sich um die eigene schließt, ein Anruf, mit dem man nicht gerechnet hat, ein freundliches Wort, Kinderarme, die sich um einen schlingen, nur um einen Augenblick der Liebe zu genießen. Es gibt Tage beflügelt von kleinen Momenten der Gnade, ein Geruch, der die Seele erfreut, ein Sonnenstrahl, der durchs Fenster dringt, das Prasseln des Regens, wenn man noch im Bett liegt, mit knirschendem Schnee bedeckte Bürgersteige oder die Ankunft des Frühlings mit seinen ersten Knospen.
An diesem Samstagmorgen hatte die Concierge Keira drei Briefe ausgehändigt. Die Archäologie ist ein akademischer Beruf, bei dem jeder durch sein Wissen zu der erhofften Entdeckung beiträgt. Der Erfolg vor Ort
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