Am Fluss des Schicksals Roman
die Konzentration fehlte. Er stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall, sodass er geradezu an sich halten musste, um seine fünf Sinne nicht zu verlieren. Irgendjemand hatte es auf ihn abgesehen, und er würde herausfinden, wer das war, das schwor er sich. Derjenige würde sich noch wünschen, niemals geboren zu sein, dafür würde er sorgen.
Silas’ Gedanken kreisten erneut um Joe Callaghan. Er war sein Hauptverdächtiger, obwohl es Joe nicht ähnlich sah, zu solchen Mitteln zu greifen wie die Curlew zu versenken. Zähneknirschend musste Silas sich eingestehen, dass Joe stets den Eindruck machte, ein anständiger Mensch zu sein; außerdem liebte er Dampfschiffe. Es konnte natürlich auch die Vergeltung dafür sein, dass Francesca ihn, Silas, beim Kuss mit Regina erwischt hatte, aber das war eher unwahrscheinlich, zumal es davor bereits die beiden Anschläge auf die Pontonbrücke gegeben hatte. Silas’ Gedanken schweiften zu Lizzie, doch er war sicher, dass sie nicht in der Lage wäre, die Curlew zu versenken oder die Pontonbrücke zu zerstören. Es seidenn, sie hatte Unterstützung – womit Silas wieder bei Joe landete.
Silas trat hinaus auf den Balkon, just in dem Moment, als der Regen einsetzte. Er machte sich Gedanken um seine Mühle und fragte sich, ob es klüger wäre, über Nacht dort eine Wache zu postieren. Es stand viel auf dem Spiel, sollte die Mühle als Nächstes betroffen sein – weitaus mehr, als irgendjemand ahnte.
Lizzie stand vor der Bäckerei auf der High Street unter der Markise und blickte zum Bridge Hotel hinüber. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte sie sich versteckt gehalten, aber mittlerweile schüttete es wie aus Kübeln, und die Luft war eisig frisch geworden. Sie beobachtete, wie eine Droschke vor dem Hotel hielt, aus der eine Familie ausstieg – Mutter, Vater und drei Kinder in unterschiedlichem Alter. Das kleinste, vermutlich ein Mädchen, klammerte sich am Rockzipfel seiner Mutter fest. Gleich darauf hob die Mutter die Kleine hoch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie mit ihr zur überdachten Veranda eilte. Der Älteste, ein Junge, half seinem Vater mit dem Gepäck. Auf dem Weg zum Hoteleingang legte der Vater liebevoll den Arm um seinen Sohn. Es war ein harmonisches Bild, das Lizzie einen Stich ins Herz gab. Wie gern sie selber Mutter geworden wäre ...
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie dachte an das Elend, das diese Familie erleiden würde, wenn das Hotel brannte. Die bloße Vorstellung, für ein Unglück verantwortlich zu sein, das diese drei Kinder traf, ließ Lizzie zittern.
Nein, sie würde eher sterben, als ihren Plan in die Tat umzusetzen.
»Verflucht sollst du sein, Silas«, sagte sie leise und ging schluchzend die verwaiste Straße entlang, während der Regen ihr entgegenpeitschte. Ziellos stapfte sie voran. Vielleichtmüsste sie nur weit genug gehen, um ihre Verzweiflung hinter sich zu lassen.
Bevor es ihr bewusst wurde, hatte Lizzie das Ende der High Street erreicht, wo die Mühle sich ein Stück abseits von der Straße befand. In dem bleiernen Regen wirkte sie gespenstisch. Die Mühle gehörte Silas und weckte in Lizzie wieder die schrecklichen Erinnerungen an den Mann, den sie mehr verabscheute als alles andere.
Während Lizzie mit wild pochendem Herzen wie angewurzelt dastand und zur Mühle starrte, kamen ihr plötzlich Satzfetzen in den Sinn, als Silas mit seinen Geschäftspraktiken geprahlt hatte. In ihrer Verzweiflung jagten Lizzie unzusammenhängende Worte durch den Kopf, deren Bedeutung sie damals nicht verstanden hatte, die aber nun einen Sinn zu ergeben schienen. In betrunkenem Zustand hatte Silas häufig von seiner Mühle gefaselt und öfter angedeutet, dass ihre Mauern Geheimnisse bargen. Lizzie hatte auf brutale Art gelernt, niemals Fragen zu stellen, aber sie hatte keine Wahl, was das Zuhören betraf. Da sie sich damals auf Silas’ Andeutungen keinen Reim machen konnte, hatte sie die Geschichte fast schon wieder vergessen; immer wieder hatte sie den Eindruck gewonnen, dass es mit der Mühle etwas Besonderes auf sich hatte, allerdings war ihr schleierhaft, was an einer Getreidemühle Besonderes sein sollte. Außerdem redete Silas im Vollrausch jedes Mal Unsinn. Plötzlich hob sich Lizzies trübe Stimmung.
Francesca und Neal standen unter der Markise der Bäckerei und sahen zum Bridge Hotel hinüber, genau wie Lizzie mehr als dreißig Minuten zuvor.
»Ich kann sie nirgendwo sehen«, sagte Neal. Alles war wie ausgestorben.
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