Am Fluss des Schicksals Roman
marineblauer Seide war aus einer einzigen breiten Stoffbahn gefertigt. Im Bund war er mit mehreren Verschlüssen versehen, die Francesca vor einige Schwierigkeiten stellten.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Regina, als Francesca nach mehreren Minuten immer noch nicht hervorkam.
Francesca war es peinlich, die Wahrheit zu sagen. Sie kam sich noch unbeholfener vor, als es ohnehin schon der Fall war. »Ich weiß nicht, wie das geht«, sagte sie, während sie an den Verschlüssen nestelte.
»Das ist ein Wickelrock, der auf der linken Seite zugehakt wird«, entgegnete Regina mit leicht gereizter Stimme. »Ich zeige es Ihnen.« Daraufhin trat sie hinter den Wandschirm,nahm Francesca den Rock ab, schlang ihn ihr um die Taille und suchte nach den Haken, um den Rock zu befestigen. Dabei erhaschte sie einen kurzen Blick auf Francescas linken Oberschenkel, wo sich ihr Muttermal befand. Reginas Hand verharrte abrupt, und der Rock glitt ihr durch die Finger auf den Boden.
Francesca hob ihn auf. »Klappt es nicht?«, fragte sie.
»Was?« Regina starrte sie an. »Oh, ich ... doch, ja.« Sie nahm den Rock wieder an sich. »Das ist ein ungewöhnliches Muttermal«, stieß sie hervor, den Blick fest darauf gerichtet.
Francesca bemerkte, dass Regina blass geworden war und dass ihre Hände mit einem Mal zitterten. »Ja, das stimmt. Fühlen Sie sich nicht wohl, Mrs Radcliffe?«
»Mir ist ein bisschen ... schwindlig. Ich ... ich muss mich einen Augenblick setzen.« Nur mit Mühe erreichte sie das Bett und ließ sich darauf fallen. Francesca hüllte sich rasch in einen Morgenrock und ging zu ihr.
»Soll ich Monty verständigen?«, fragte sie, doch Regina schien sie nicht zu hören. Sie starrte mit glasigen Augen ins Leere.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser besorgen?«, fragte Francesca, deren Besorgnis wuchs.
Langsam richtete Regina den Blick auf sie und musterte eingehend ihr Gesicht. Erneut erkannte sie, wie ähnlich sie einander sahen. Beide hatten dunkles Haar, blaue Augen und das gleiche herzförmige Gesicht. Zudem liebten sie beide den Umgang mit Zahlen, das Rechnen, die Buchführung. Von wie vielen Frauen konnte man das sonst behaupten? Regina fiel ein, dass Francesca erwähnt hatte, sie sei am Fluss geboren. Aber das alles konnte auch Zufall sein ... oder?
»Dürfte ich Ihr Muttermal noch einmal sehen? Es ist wirklich ungewöhnlich.«
Verblüfft über ihren Wunsch, zeigte Francesca ihr das Malerneut, woraufhin Regina es eingehend musterte und mit den Fingern darüber strich.
»Meine Mutter hat mir den Namen Francesca Starr gegeben, weil das Mal die Form eines Sterns hat«, sagte Francesca, in deren Stolz sich ein trauriger Unterton mischte.
In der Tat stellte es einen fast vollkommen gleichmäßigen, fünfzackigen Stern dar, wie Regina sehen konnte. Es würde bestimmt keinen zweiten geben. Und selbst wenn – ihre Erinnerungen ließen sich nicht aufhalten. In der Nacht, als ihr Baby zur Welt gekommen war, hatte sie das Muttermal nur bei Mondschein gesehen, und auch nur für einen kurzen Moment, aber sie war sicher, dass es sich auf dem linken Oberschenkel befunden hatte. Regina versuchte zwar, sich einzureden, dass sie sich täuschte, doch in ihrem Innern wusste sie, dass ihre Ahnung sie nicht trog. Das Muttermal war unverwechselbar.
Es war unfassbar, dass ihr Kind mittlerweile erwachsen war ... und sehr wahrscheinlich neben ihr saß.
»Wann sind Sie geboren?«, fragte Regina mit tonloser Stimme. Sie holte tief Luft und betete innerlich, dass Francesca nicht den 3. Oktober nennen würde.
Francesca fand die Frage sonderbar, doch aus unerfindlichen Gründen schien sie für Regina von größter Bedeutung zu sein. »Am 3. Oktober. Weshalb fragen Sie?«
Regina gab einen erstickten Laut von sich. Mit dem letzten Funken Hoffnung fragte sie: »In welchem Jahr ...?« Monty hatte zwar erwähnt, Francesca sei jung, aber er hatte nie ihr Alter genannt. Ihre Tochter müsste mittlerweile siebzehn sein.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»In welchem Jahr?«, beharrte Regina nachdrücklich. Sie musste ihre ganze Kraft aufbringen, kühle Beherrschung zu wahren.
»1866. Aber sagen Sie mir bitte, warum Sie das wissen möchten.«
»Mein Gott.« Regina schlug die Hände vors Gesicht, sprang auf und stürzte aus dem Zimmer.
Verwirrt folgte Francesca ihr bis zur Tür und sah, dass Regina durch den Korridor zu ihrem Schlafzimmer eilte und gleich darauf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuwarf. Francesca hörte, wie die Tür von
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