Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
meines Vaters führte zweiundfünfzig Wochen im Jahr an sieben Tagen die Woche diese Treppen rauf und runter. Abends saß ich meistens auf einem Barhocker, erledigte meine Hausaufgaben, nippte an meiner Cola oder einem Ginger-Ale und hörte den Leuten aus dem Viertel zu, die einander lange Geschichten erzählten. Für mich war die Kneipe einfach ein weiteres Zimmer, das zu unserer Wohnung gehörte.
Das P&G war ein bisschen anders, kam dem aber doch sehr nahe. Seit wir weggezogen waren, hatte ich mich hier nicht mehr blicken lassen.
Die Nachmittagskundschaft hatte sich nicht verändert. Vinny, der Spieler, nickte mir von seiner Ecke beim Fenster aus zu, das Rennprogramm zusammengefaltet als Polster unter dem Ellbogen, den kleinen Schwenker mit Rémy und sein Päckchen Camel in Reichweite auf dem Tresen. Die beiden Johns, Ma und Pa, ein respektables schwules Paar, das seit drei bis vier Jahrzehnten das andere Ende des Tresens mit Beschlag belegte, grüßten höflich und wandten sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Es gab einen neuen Barkeeper, Rollie, aber ansonsten war alles beim Alten. In dem Durchgang im rückwärtigen Teil, wo es zur einzigen Toilette ging, prangte noch dasselbe Wandbild, eine Art ländlicher, mittelalterlicher Idylle, durch permanente Nikotineinwirkung inzwischen mit einem Sepiaton überzogen, der das Ganze echt nach altem Meister aussehen ließ. Es war ein dritter Fernseher aufgestellt worden, aber da auf allen drei Bildschirmen dieselbe Übertragung eines Pferderennenslief, störte er das Gesamtbild nicht weiter. Die Jukebox war auch noch die alte – eine zweischneidige Sache, denn in meinen Augen lief darauf viel zu viel Neil-Diamond-Zeug. Ich stellte einen Fuß auf die Stange unten am Tresen und trank mein Bud Light.
Auf dem Tresen lag eine Ausgabe der Post – heimliches Laster aller New Yorker. Als ich an der Wall Street anfing, hatte der Chef der Devisenhändler an der Wand über seinem Schreibtisch ein gerahmtes Exemplar der damals berühmtesten Post -Titelseite hängen. »Toter entdeckt: Ohne Kopf in Oben-ohne-Bar.« Die Herausgeber hatten alles daran gesetzt, dieses journalistische Niveau zu halten.
Die Headline, die mir jetzt ins Auge sprang, lautete: »Er ruht bei den Fischen.« Dazu ein Bild von einem aufgedunsenen Leichnam – bäuchlings, sodass das Gesicht nicht zu sehen war und die Grenzen des guten Geschmacks gerade so weit gewahrt blieben, dass keine juristischen Schritte zu befürchten waren – in einer zerrissenen, ausgeblichenen Schwimmweste. Ohne das Bild wäre die Geschichte nicht mehr gewesen als ein kurzer Aufmacher, dessen Fortsetzung auf Seite zwölf begraben war. Ein paar Wochen zuvor war ein junger Wall-Street-Trader in einem Sturm auf dem Long Island Sound über Bord gegangen. Nun hatten Sportfischer, die draußen gewesen waren, um Streifenbarsche zu fangen, fünfzig Kilometer weiter seinen Leichnam gefunden. Ich las auf Seite drei weiter. Da gab es ein Foto von der zerborstenen Yacht, die mit abgeknicktem Mast in einem unmöglichen Winkel irgendwo bei Greenwich an einem Felsen klebte. Der Skipper der Yacht hatte keinen Kommentar abgegeben. Der Chef des jungen Mannes hatte keinen Kommentar abgegeben. Seine Eltern hatten keinen Kommentar abgegeben. Selbst sein Mitbewohner hatte keinen Kommentar abgegeben. Die Küstenwache war zu dem Schluss gekommen, dasses sich um einen Unfall handelte, und hatte keinen weiteren Kommentar abgegeben. Trotzdem verstand es der Schreiber, der Geschichte einen Hauch von Skandal und Vertuschung zu verleihen.
Zwei Männer kamen herein. Sie waren in einen freundschaftlichen Disput über Grateful Dead vertieft. Ich lauschte, bis sich mir die Möglichkeit bot, mich in das Gespräch einzumischen. Ich erwähnte, dass ich auch mehrere Grateful-Dead-Konzerte gehört hatte. Damit war ich sofort akzeptiert.
»Und, spendierst du mir einen Drink?«
Ich drehte mich um. Neben mir stand der kleine Mann mit dem traurigsten Gesicht der Welt. Ungeachtet seines Alters – längst mit Anspruch auf Medicare-Versorgung – sah er aus wie aus Gummi gemacht, so als könne man ihn in jede beliebige Richtung dehnen und ziehen, und er würde in seine ursprüngliche kompakte Form zurückschnippen, sobald man ihn wieder losließ.
»Roger, wie geht’s? Lange her.«
Er kam immer am Spätnachmittag. Wenn zur Cocktail-Stunde die Massen aufkreuzten, zog er sich mit seinem Brandy lieber in eine der Nischen weiter hinten zurück. Dort hatte ich ihm, bevor ich
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