Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
stand da und starrte ihn an, fasziniert, als handele es sich um einen fernen Tornado. Dann wandte er sich plötzlich in meine Richtung, steuerte auf mich zu, und ich war sicher, dass ich dem Tod ins Auge sah.
Die Wachen stoppten ihn schließlich mit mehreren Schüssen aus einer Elektroschockpistole. Die Erleichterung, die ich empfunden hatte, als er unmittelbar vor mir zu Boden ging, war nichts im Vergleich zu dem, was mich bewegte, als Kid einschlief.
Ich lehnte den Kopf an, und im nächsten Moment schlief ich selbst ein.
Eine halbe Stunde bevor wir in New York landeten, kam ich wieder zu mir. Der Kleine hatte sich neben mir eingerollt und benutzte meinen Arm als Kopfkissen. Es fühlte sich gut an.
Kid verbrachte die Woche mit Besuchen bei Park-Avenue-Ärzten, an der Columbia und der New York University bei Spezialisten für frühkindliche Entwicklung und bei Zulassungsgremien von Schulen – öffentlichen ebenso wie privaten – in drei Verwaltungsbezirken der Stadt. Ich trottete hinterher und stellte Schecks aus.
Bis zum Samstagnachmittag war er an einer – privaten und auf autistische Kinder spezialisierten – Schule angemeldet, und sein Treuhandfonds war um den Gegenwert von zwei Jahren Harvard geschrumpft. Er hatte einen Stab an Ärzten, die mir Variationen über die immergleiche Aussage erzählten – er konnte Fortschritte machen, vielleichtaber auch nicht, ich sollte hoffen, aber nichts erwarten – und einer wie der andere für fünfzehn Minuten Audienz mehr berechneten, als ich in einer Stunde verdienen würde. Und er hatte Heather.
Ungefähr so breit wie hoch, tätowiert und mit mehr Gesichtsschmuck gespickt als alle, die sich bei einem Marilyn-Manson-Konzert in der ersten Reihe drängen, zusammen, war Heather sein Schatten, seine Aufpasserin, seine Mentorin. Eine Zauberin. Sie promovierte an der Columbia über frühkindliche Entwicklung und freute sich über die Gelegenheit, aus erster Hand und im Eins-zu-eins-Kontakt Erfahrungen mit einem autistischen Kind zu sammeln. Ihre Freude war sogar so groß, dass sie sich bereit erklärte, zwanzig Stunden die Woche für bloß achtundvierzig Dollar die Stunde zu arbeiten. Mein Sohn war die Wildnis, und sie geleitete mich hindurch.
Währenddessen erkundeten Kid und ich die Grenzen und Bedürfnisse des anderen. Die Wochentage wurden durch die Gerichte gekennzeichnet, die zum Frühstück zugelassen waren, und durch das Farbschema, das er jeweils für sein Outfit akzeptierte. Blau war für die Montage reserviert. Gelb kam gar nicht vor. Beige ging mittwochs und sonntags am besten, Freitage verlangten Schwarz. Karos waren vollkommen ausgeschlossen.
Es gab Rührei, aber niemals Spiegelei. Zu Pfannkuchen gehörte Mais- und kein Ahornsirup, und das auch nur freitags und sonntags. Senf, davon hatte er mich bald überzeugt, war eine Scheußlichkeit, die niemals auch nur in die Nähe seines Essens kommen durfte. Er nannte Senf »Kacka«. Dieses Wort schrie er an vielen Orten aus Leibeskräften heraus, auch in dem Coffeeshop gegenüber an der Amsterdam Avenue. Nach und nach konnte ich ihn bewegen, Nahrungsmittel zu akzeptieren, die nicht nur weiß oder gelb waren.Grün allerdings war noch Bestandteil der längerfristigen Planung.
Im Regal hatte ich einen Stapel Bücher liegen, in denen ich oft Rat, Trost oder Ermutigung suchte. Fallstudien, persönliche Erfahrungsberichte, theoretische Abhandlungen und Praxis-Ratgeber. Manchmal halfen sie. Aber Mamma behielt recht. Am besten funktionierte es, wenn ich meinem Sohn, der so gut wie gar nicht sprach, zuhörte. Er war sehr wohl in der Lage, seine Vorlieben und Abneigungen deutlich zu machen.
Rolltreppen waren unter keinen Umständen zulässig. Aufzüge dagegen stellten kein Problem dar. Er war schon im Mutterleib Fahrstuhl gefahren. Er trat ein, die Türen gingen zu, und wenn sie sich wieder öffneten, hatte das Universum sich verändert. Das war eine Art Zauber, mit der er vertraut war.
Die schwarzen und weißen Bodenfliesen in der Lobby des Ansonia hingegen stellten überraschenderweise eine Herausforderung dar. Es war eine große weiße Fläche, die durch unregelmäßige schwarze Muster durchbrochen wurde. Das Problem waren die schwarzen Fliesen.
Als das erste Mal die Fahrstuhltüren aufgingen und Kid das Muster sah, erstarrte er.
»Komm, mein Kleiner. Das ist nicht schlimm.« Ich verließ die Kabine und postierte mich so, dass mein einer Fuß auf einer weißen und der andere auf einer schwarzen Fliese
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