Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
– Lächeln, ein Ausdruck grenzenloser Begeisterung. Auf wundersame Weise hatte sie jeden Hinweis auf das Vorhandensein komplexerer Hirnfunktionen abgelegt, und es machte mir gar nichts aus.
»Gruselig, was?« Sie kehrte zu ihrer normalen Haltung zurück und ging weiter.
»Nein, kein bisschen. Das war sehr beeindruckend. Ich würde sagen, Roger kann froh sein, dass er dich hat.«
»Er gibt sich oft grantig, aber eigentlich ist er ganz in Ordnung. Das Geld ist leicht verdient, und die Jobs lassen sich gut mit dem Studium vereinbaren.«
Das Gespräch hatte keineswegs bewirkt, dass sie langsamer geworden wäre. Ich hielt gerade so mit, ohne schnaufen zu müssen.
»Wie weit gehen wir noch? Bis zur Columbia?«
»Meine Uni. Nicht ganz.«
Wir kamen am Zabar’s -Imperium vorbei.
»Warum Physiotherapie?«
»Das ist eine Geschichte für sich.«
»Aber kein Geheimnis?«
»Nein.« Sie lachte. In dieses Lachen hatte ich mich schon verliebt. »Ich war mal Tänzerin. Acht Jahre war ich bei denRockettes, habe zwei Tourneen durchs ganze Land mitgemacht – Fosse und 42nd Street –, und drei Jahre lang war ich in London, Paris und Frankfurt bei Cats .«
»Wow! Tolle Laufbahn. Wie gesagt, Roger kann sich glücklich schätzen, dass er dich hat.«
»Eines Tages fing meine linke Hüfte an wehzutun. Wie alle Tänzer es tun, habe ich das ein halbes Jahr lang ignoriert, bis ich in beiden Hüften solche Schmerzen hatte, dass ich nicht mehr arbeiten konnte. Ich bin nach New York zurückgekehrt und zu allen möglichen Ärzten gelaufen. Und alle haben das Gleiche gesagt: Falls ich weiterhin in der Lage sein wollte zu laufen, sollte ich mit dem Tanzen aufhören.«
»Das Laufen klappt ja ziemlich gut.«
Wir hatten die 86. Straße gekreuzt und gingen gerade an Murray’s Sturgeon Shop vorbei. Meine Kräfte schwanden zusehends.
»Nach monatelanger Physiotherapie war ich überzeugt. Und nächstes Jahr im Mai hole ich mir mein hart erarbeitetes Zeugnis und fange an, andere Tänzerinnen zu behandeln.«
»Tanzt du jetzt noch manchmal?«
»Willst du mit mir tanzen gehen?«
»Ich bitte dich. Ich kann mich auf vielerlei Weise blamieren, dazu muss ich mich nicht auf eine Tanzfläche begeben.«
»Ach was, ich wette, du bist ein Naturtalent! Hast du nie eine heimliche Leidenschaft für Salsa gehabt? Rumba?«
»Schon wieder Heimlichkeiten?« Ich machte einen kleinen Satz nach vorn, um sie wieder einzuholen.
»Gehe ich zu schnell für dich?« Für ein paar Schritte drosselte sie ihr Tempo deutlich.
»Du hast die längsten und schönsten Beine, die ich je gesehen habe.«
»Das heißt, ja.«
»Das heißt es.«
»Hm.« Es schien ihr nicht zu gefallen, aber sie wurde geringfügig langsamer.
Inzwischen waren wir über die 96. Straße hinaus und wanderten immer noch in nördliche Richtung. Stück für Stück hatte sich das Gesicht der Straße verändert. Touristen wäre das vielleicht gar nicht aufgefallen. Meine Sensoren dagegen gingen in Bereitschaft.
»So allmählich verlassen wir meinen Kompetenzbereich«, sagte ich.
»Und betreten meinen. Na los, du hast schon über die Hälfte geschafft.«
Die nächsten paar Blocks behielten wir den etwas gemächlicheren Schritt bei.
»Ich dachte, alle New Yorker gehen schnell«, sagte sie schließlich.
Ich musste lachen. »Das tun wir ja auch. Leg einfach ein Tempo vor. Ich komm schon zurecht.«
Sie warf triumphierend den Kopf zurück. »Danke«, sagte sie. Und wir wurden wieder schneller.
»Das Reden hast du bisher ganz mir überlassen.«
»Und das war schön«, erwiderte ich.
»Ich möchte aber trotzdem etwas wissen.«
Jetzt kommt sie, dachte ich, die »Gefängnis-Frage«. Sie hat von meiner Geschichte gehört und muss unbedingt nachfragen. Ich wappnete mich, um nicht zusammenzuzucken.
»Klar. Nur zu.«
»Erzähl mir von deinem Sohn.«
Kid war als Thema sogar noch schwieriger.
»Ach. Wir lernen einander gerade erst kennen, er und ich.«
Nicht über ihn zu sprechen bedeutete Anspannung. Über ihn zu sprechen genauso. Ich entschied mich für Letzteres, weil ich es ihr erklären wollte. Also redete ich weiter.
»Sein Universum ist klein, einzigartig und völlig anders als das, durch das wir uns bewegen. Meine Herausforderung besteht darin, jeden Tag aufs Neue zu versuchen, die Welt mit seinen Augen zu sehen – darin versage ich ständig –, aber auch zu versuchen, ihm die Welt so zu zeigen, wie wir sie sehen – darin versage ich auch, aber vielleicht nicht ganz so durchgehend.
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