Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
Meine ich.«
Ich sah kurz zu ihr hinüber, und sie nickte ermutigend.
»Er ist autistisch. Das gibt es in allen möglichen Stufen und Ausprägungen. Es gibt Genies wie die Verhaltensbiologin Temple Grandin oder den Zahlen- und Sprachenkünstler Daniel Tammet, aber es gibt auch Kinder, die überhaupt nicht sprechen können und zur realen Welt keinerlei Verbindung haben. Vor wenigen Wochen noch hat mein Junge in einem abgeschlossenen Zimmer gelebt, weil meine Frau und ihre Mutter dachten, dass er anders nicht zurechtkommt und, wenn er rauskann, dauernd Unfälle hat oder sich sonst wie verletzt. Ich habe einfach gehofft, dass mehr möglich ist – ohne eigentlich zu wissen, auf was ich mich einlasse. Es haut mich um, was für Riesenfortschritte er in der kurzen Zeit schon gemacht hat. Aber ...«
Ich hatte versucht, mit meinem Vater über all das zu reden, und am Ende doch nicht viel gesagt. Sonst gab es niemanden. Jetzt hatte ich das Gefühl, gar nicht wieder aufhören zu können.
»Mir geht’s nicht darum, dass aus ihm ein Genie wird. Ich würde mich einfach gern mit ihm unterhalten. Das wäre riesig. Zurzeit spricht er fast ausschließlich in Zitaten – überwiegend aus Werbespots. Ich fände es schön, wenn er in der Lage wäre, mit anderen Kindern zu spielen – ohne sie zu beißen. Aber noch kann ich mir nicht vorstellen, dass es so weit kommt. Er nimmt kaum wahr, dass es überhaupt andere Kinder gibt. Ich würde ihm wünschen, dass er einesTages eine Freundin hat. Das gibt es. Aber niemand kann mir heute sagen, was zu erreichen ist und was nicht. Keiner weiß das. Im Vergleich zu Kindern, die regelmäßig gefördert wurden, ist er zwei Jahre zurück. Das ist viel. Manche holen einen solchen Abstand nie auf, andere schaffen das. Es wird sich zeigen.«
Wir waren stehen geblieben. Wanda sah mir in die Augen, hörte aufmerksam zu.
»Er kann es nicht ausstehen, angefasst oder hochgenommen zu werden. Umarmen, kuscheln geht nicht. Meistens sieht er durch mich hindurch, so als wäre ich gar nicht da. Es sei denn, er hat Hunger. Und manchmal ist er sauer, dreht durch, schreit wegen einer Kleinigkeit vor Angst und Wut, und dann ist das Einzige, was hilft, dass ich ihn mit meinem ganzen Körper halte und wir zusammen schaukeln, immer vor und zurück, bis sein Körper sich endlich entspannen kann und er aufgibt. Dann komme ich mir immer brutal vor. Wie sein Gefängniswärter oder so was. Andererseits ist es ein gutes Gefühl, überhaupt etwas für ihn tun zu können.«
Mir ging es schon lange nicht mehr darum, ihr etwas zu erklären – ich redete nur noch um meiner selbst willen. Und ich machte immer weiter.
»Manchmal, wenn ich nachts nach ihm sehe, küsse ich die Luft über seiner Stirn, weil ich Angst habe, dass er, wenn ich ihn berühre, aufwacht und einen Anfall kriegt – er hat immer Angst vor Keimen.« Ich musste lachen. »Jedenfalls ist er reinlich. Er ist der reinlichste Fünfjährige, den du dir vorstellen kannst.«
Nun sah ich sie wieder an. Ihr Mitleid war schwer zu ertragen.
»Entschuldige«, sagte ich. »Scheiße. Ich habe mich hinreißen lassen. Ich habe nicht so oft Gelegenheit, davon zu erzählen. Mein Gott, du wolltest eigentlich nur die Kurzfassung,oder? ›Wie geht’s deinem Kind?‹ – ›Gut, danke. Sehr gut.‹ Es tut mir leid, ehrlich.«
»Nein, nein, das ist völlig in Ordnung. Ich war nur überhaupt nicht darauf vorbereitet.« Sie nahm meinen Arm, drückte ihn an sich und zog mich weiter. Eine ganze Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, bis sie schließlich sagte: »Wenn du das nächste Mal davon erzählen möchtest, sag mir Bescheid, ja? Du hast dabei so etwas Besonderes, einen Zauber.«
» Kali spera , Skeli. Schön, dich zu sehen«, sagte der muskulöse und zugleich rundliche Mann, der bestimmt Mitte sechzig war.
» Efharisto , Aristos. Kali spera. Pos eesai .«
»Gut. Gut. Eeseh poli oreah .«
Wanda lachte. Ich lächelte etwas benommen.
Der Duft von gegrilltem Lamm, Knoblauch, Kardamom, Oregano und frisch gebackenem Pita war überwältigend.
Wir wurden im rückwärtigen Garten platziert. Dort machten Lichterketten der Abenddämmerung und den Kerzen auf den Tischen Konkurrenz. Es war noch früh, aber das Restaurant war bereits voll.
»Kann ich bestellen? Für uns beide.«
Das hatte mich noch keine Frau je gefragt.
»Kann ich dann wenigstens den Wein bestellen?«
»Hmm.«
Allmählich wusste ich, was dieses kleine Geräusch bedeutete – zumindest glaubte ich
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