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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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Wasser. Sie bemerkten es wohl zu spät – das zumindest ist die Version, die uns später von der Polizei erzählt wurde.
    Ich saß derweil am Strand in einem Liegestuhl und las. Ich war froh, ein wenig Ruhe von den beiden Rabauken zu haben – bis ich ihr Rufen hörte. Sie schrien in höchster Not, weil das Boot zu kentern drohte. Beide konnten schwimmen, aber sie waren schon zu weit draußen, um aus eigener Kraft zurückkommen zu können …
    Matthew, es war so schrecklich. Selbst jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, verfolgt mich das Schreien meines Bruders, das wilde Kreischen Rudolfs, ihr verzweifeltes Rufen.
    Ich sprang sofort ins Wasser und versuchte, zu ihnen zu gelangen. Wie schrecklich zu sehen, wie die Köpfe der beiden immer wieder unter der Wasseroberfläche verschwanden! Inzwischen waren auch andere Leute am Strand auf die beiden aufmerksam geworden und folgten mir ins Wasser. Ich erreichte Rudolf und Alfred zuerst, und ich versuchte, Rudolf zu beruhigen, aber er war in Panik und keinem vernünftigen Argument mehr zugänglich. Also versuchte ich, ihn zum Strand zu ziehen, ich wollte, dass er sich an mir festhielt, doch er klammerte sich an meinen Hals und würgte mich, dass mir fast schwarz vor Augen wurde. Und immer noch waren die anderen zu weit entfernt, und ich sah, wie in einiger Entfernung Alfred wieder unterging, und ich wusste, dass er nicht mehr viel Kraft hatte.
    Da habe ich Rudolf von mir gestoßen, und er versank in der Tiefe. Ich sah, wie er Wasser schluckte und die Arme hochriss. Zugleich aber war Alfred verschwunden. Das Meer war um mich glatt und bloß, als habe es diese beiden Kinder nie gegeben.
    Ich tauchte. Das konnte ich immerhin, und ich sah unter Wasser, wie Alfred immer tiefer sank. Ich sah nur ihn und merkte nicht, dass Rudolf direkt neben mir war, bis ich seinen Körper streifte. Ich schwamm hinab, zog Alfred hoch. Als ich nach oben kam, waren endlich die anderen Helfer heran, und sie nahmen mir sofort Alfred ab und brachten ihn zum Strand. Jemand versuchte dort, ihn wiederzubeleben, während die anderen Männer mit mir draußen blieben und wir nach Rudolf suchten.
    Es dauerte etwas, bis wir ihn fanden.
    Es dauerte für ihn zu lange. Wir zogen nur noch seinen Leichnam aus dem Wasser.
    Als wir zum Strand kamen, völlig abgekämpft und durchnässt, fiel ich in den Sand. Ich weinte, weinte, weinte. Ich hatte Rudolf verloren, den kleinen Bruder Benjamins, den dieser genauso abgöttisch liebte wie ich meinen Alfred. Jemand legte mir eine Decke um die Schultern, und sie redeten aufgeregt auf mich ein. Zuerst nannten sie mich eine Heldin, aber dann stellte sich heraus, dass Rudolf tot war und Alfred – er war seither nicht mehr derselbe. Ein Arzt hat später versucht, es mir zu erklären. Er meint, durch die fehlende Atemluft sei sein Kopf beschädigt worden, und deshalb könne er nicht mehr sein wie ein Neunjähriger. Eher wie ein Kleinkind, ein Zweijähriger. Er konnte seither nicht mehr richtig sprechen, und die meiste Zeit liegt er im Bett, weil es zu aufwendig ist, ihn in einen Rollstuhl zu schnallen, denn er wird oft wütend und schlägt um sich oder verletzt sich selbst. Ja, und manchmal müssen wir ihn nachts am Bett festbinden, damit er sich nicht schadet.
    Das alles ist passiert, weil ich nicht aufgepasst habe. Es ist allein meine Schuld, und ich kann alles verstehen, was danach passiert ist. Dass Benjamin die Verlobung gelöst hat, weil ich den Tod seines Bruders verschuldet habe. Dass meine Eltern sich von mir abgewendet haben, weil ihr jüngster Sohn seither verrückt ist und nicht mehr er selbst. Ja, ich verstehe das alles. Ich war unaufmerksam.
    Und nun weiß ich nicht, wie ich dir das sagen kann, ohne dass du glaubst, dass ich eine Gefahr bin für die Kinder, die wir hoffentlich eines Tages haben werden. Ich hätte Verständnis dafür, wenn du dich jetzt von mir abwendest, ja, ich könnte es sogar verstehen, wenn du nie wieder etwas von dir hören ließest. Zwischen uns entwickelt sich etwas, von dem ich hoffe, dass es Zukunft hat. Und zur Zukunft gehören Kinder, nicht wahr? Was aber, wenn ich eines Tages unachtsam bin? Wenn einem unserer Kinder etwas passiert, wenn es durch mein Verschulden krank wird oder gar – und diesen Gedanken möchte ich nicht aufschreiben, weil ich fürchte, damit genau das heraufzubeschwören, aber … Was also, wenn eines unserer Kinder stirbt und ich die Schuld daran trage?
    Wäre es dann nicht besser, wir ließen das, was wir

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