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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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jetzt so behutsam aufgebaut haben, ruhen? Als eine Möglichkeit, die verlockend war, die aber nie Bestand haben kann, weil ich mich vor mir selbst fürchte? Ich scheue nicht die Verantwortung, aber ich möchte nicht, dass wir eines Tages so etwas erleben und dann von dir ein Vorwurf kommt, weil ich nicht aufgepasst habe. Ich will das weder dir noch mir antun, und schon gar nicht unseren ungeborenen Kindern (mögen sie lange und zufrieden leben!).
    Ich möchte aber – und darum schreibe ich diesen Brief – eine Zukunft mit dir. Mit dir will ich zusammen sein, bis wir alt und grau sind, und ich will Kinder mit dir, ich will alles, was Mann und Frau sein können. Darum, ja – ich will!
    Aber ich kann das nur, wenn du alles über mich weißt und wenn es für dich in Ordnung ist. Glaub mir, ich bin nicht «ungeschickt» oder «unachtsam» – nicht nach dem, was damals passiert ist. Aber es ist eine schwere Schuld, an der ich trage, ohne zu klagen – denn ich habe keinen Grund zu klagen, ich lebe, ich bin gesund, allein trauern muss ich um Rudolf und Alfred.
    Das ist meine Schuld, und ich wollte, dass du das weißt. Ich will, dass du mich mit all meinen Fehlern und Mängeln kennst, ehe ich das Schiff nach Afrika besteige. Ehe ich mit dir das Leben beginne, nach dem ich mich so sehr sehne.
    Für immer die Deine
    Audrey
    Er ließ den Brief sinken.
    Warum jetzt?, dachte er. Warum bekam er diesen Brief erst jetzt in die Hände, viele Jahre, nachdem sie ihn geschrieben hatte?
    Hatte sie ihn gar nicht zufällig in ihrer Schürzentasche vergessen, sondern ihm über Mary in die Hände gespielt? Und warum hatte sie ihn damals nicht abgeschickt, sondern so lange aufbewahrt?
    Oder sollte er ihn gar nicht lesen? Trug sie diesen Brief vielleicht schon seit Jahren mit sich herum, eine Last, ein Gewicht, eine Bürde, die sie immer wieder daran erinnerte, dass sie dieses Leben nicht zu verdienen glaubte?
    Das waren seine ersten Gedanken, und sie gefielen ihm nicht.
    Da war noch ein anderer, leiser Gedanke zunächst, der sich aber immer weiter in den Vordergrund drängte.
    War sie wirklich unachtsam gewesen? Unvorsichtig? Hatte sie die Vorsichtsmaßnahmen vernachlässigt, die sie zum Schutz der eigenen Gesundheit und der ihrer Kinder ergriffen hatten?
    Trug sie die Schuld an Chris’ Tod?
    War das ihre Art, sich diese Schuld einzugestehen?
    Er blieb lange einfach sitzen und starrte auf den Brief. Noch einmal versuchte er, ihn zur Hand zu nehmen und zu lesen, aber davon wurde ihm so unwohl, dass er die Bögen Papier von sich warf und das Gesicht in den Händen vergrub. Er stand auf, trat an das Fenster und öffnete es weit. Die afrikanische Nacht war niemals still – das Keckern der Hyänen, in der Ferne manchmal das Brüllen eines Löwen. Ein Rascheln im Unterholz, das Flüstern des Windes.
    Was bedeutete das für Audrey und ihn?
    Sie hatte ihn all die Jahre angelogen. Hatte ihm etwas verschwiegen.
    Hätte sich denn etwas geändert, wenn er davon gewusst hätte? Hätte er sie nicht genommen, wenn er diesen Brief vor Jahren erhalten hätte?
    Diese Frage war unmöglich zu beantworten.
    Aber dadurch, dass er den Brief hatte, stellte sie sich ihm.
    Es war schon spät, doch Matthew blieb am offenen Fenster stehen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Das Gefühl, jahrelang eine Lüge gelebt zu haben, schnürte ihm die Luft ab.
    Er hatte sich in ihr getäuscht.
    Sein Kind war tot.
    Sein Sohn starb, weil Audrey nicht aufgepasst hat. Weil sie nicht «achtsam» war, wie sie selbst es nannte.
    Wie konnte er ihr da noch länger das Wohl seiner Kinder anvertrauen?

[zur Inhaltsübersicht]
31 . Kapitel
    «Matthew, bist du das?» Verschlafen tastete sie nach dem Kopfkissen neben sich. Es war leer und kalt.
    Audrey richtete sich auf. Sie war allein im Zimmer, aber sie hörte, dass irgendwo im Haus Menschen unterwegs waren. Stimmen flüsterten, eine Tür wurde geöffnet.
    «Matthew?» Ehe sie aufstehen konnte, sah sie ihn in der Tür, groß und dunkel ragte er auf.
    «Es ist nichts», sagte er. «Thomas hat nicht gut geschlafen, ich habe ihm vorgesungen.»
    «Dann ist ja alles gut.» Sie sank erschöpft zurück in die Kissen. Die Schwangerschaft setzte ihr zu. Tagsüber war sie viel auf den Beinen, und nachts schlief sie wie ein Stein. Es fühlte sich an, als habe jemand Bleigewichte an ihre Glieder gehängt.
    Sie schloss die Augen, knautschte das Kopfkissen zurecht und war fast wieder eingeschlafen, als sie noch flüsterte: «Kommst du auch

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