Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
Vom Netzwerk:
Teller und biss hinein. Sie kaute, schluckte und betupfte den Mund mit der Serviette, ehe sie antwortete. «Stimmt. Du hast auch nie gefragt. Aber ich frage jetzt. Was war das mit dir und diesem Benjamin von Preußen?»
    «Das ist eine lange Geschichte», sagte Audrey leise.
    «Ich hab Zeit.»
    Sie seufzte.
    Und dann begann sie zu erzählen.

[zur Inhaltsübersicht]
19 . Kapitel
    Sie hatten sich in London kennengelernt, im Winter 1908 . Audrey war neunzehn und für einige Wochen bei einer Großtante zu Besuch, die langsam zu alt und tattrig wurde, um allein zu leben, die jedoch gleichzeitig mit einem erstaunlichen Altersstarrsinn gesegnet war, weswegen sie jedem, der auch nur andeutete, sie solle vielleicht lieber zu ihrem Sohn ziehen, um dort ihren Lebensabend im Kreise ihrer Lieben zu verbringen, empört von sich wies. Weil sie aber die Angewohnheit hatte, alles zu vergessen, was sie sich nicht aufschrieb – um dann zu vergessen, was sie sich wo aufgeschrieben hatte –, war die Familie übereingekommen, Tante Betty regelmäßig und reihum zu besuchen und ihr die Nähe und Fürsorge angedeihen zu lassen, die sie auf keinen Fall haben wollte.
    Audrey war also für drei Wochen in der Hauptstadt. Sie bewohnte in Tante Bettys Wohnung ein kleines, enges Gästezimmer, das sie sich mit drei Katzen teilen musste. Tagsüber bestand Tante Betty darauf, ausgedehnte Streifzüge durch die Stadt zu machen, von der sie behauptete, sie «wie die eigene Westentasche» zu kennen. Sie verliefen sich regelmäßig und mussten dann für den Rückweg eine Mietdroschke nehmen.
    Bei einem dieser Ausflüge fing es an zu regnen. Audrey und Tante Betty waren darauf jedoch nicht eingestellt, und die Regenschirme hatten sie zu Hause vergessen. Es war schier unmöglich, eine Droschke zu bekommen, und Tante Betty weigerte sich, in die elektrische Tram zu steigen, mit der sie innerhalb einer Viertelstunde daheim gewesen wären. Also standen sie unter dem kleinen Dach vor dem Schaufenster des Hutmachers «Rhodes & Cie.» und warteten, dass der Regen aufhörte. Audrey trat mehrmals an die Straße und versuchte, eine Droschke heranzuwinken, aber mehr als Schlammspritzer auf dem Rock und einen nassen Hut gewann sie dabei nicht.
    Bis tatsächlich eine Droschke heranfuhr und hielt. Heraus stieg Benjamin von Hardeberg und bot den beiden Damen an, sie nach Hause zu fahren. Audrey nahm dankbar an, denn inzwischen begann Tante Betty sogar schon, vorbeieilende Passanten zu beschimpfen und ihnen vorzuwerfen, sie ließen sie verhungern. (Tante Betty hatte stets Appetit, obwohl sie so dürr wie ein Vöglein war.)
    Benjamin verhielt sich wie ein perfekter Gentleman. Er brachte sie heim und weigerte sich, von Audrey ihren Anteil an der Droschkenfahrt bezahlt zu bekommen. Und danach verabschiedete er sich sehr höflich.
    Zwei Tage später schickte er seine Karte und bat darum, den beiden einen Besuch abstatten zu dürfen.
    Es war, so erinnerte Audrey sich, alles perfekt, genau, wie es sein sollte. Er warb ganz vorsichtig um sie, als fürchtete er, er könne sie erschrecken. Und als ihre Abreise näherrückte, bat er, sie daheim besuchen zu dürfen, um bei ihrem Vater vorzusprechen. Es ging so schnell, dass sie gar nicht wusste, wie ihr geschah.
    Ihre Eltern waren mit Benjamin hochzufrieden, nein, sie liebten ihn. Er war der perfekte Schwiegersohn. Dass er Deutscher war, Preuße gar, nun gut, das sollte kein Problem sein, wenn er später mit Audrey in England leben würde.
    Ein Jahr später wollten sie heiraten, im August. Audrey hatte ein Kleid, eine Aussteuertruhe, sie hatte Pläne für die Zukunft.
    Und das alles zerschlug sich an einem Sommertag im Jahre 1909 , als die Familien für einen Badeurlaub in Bristol weilten, um sich besser kennenzulernen, bevor Audrey und Benjamin heirateten.
    Sie redete sich später oft ein, es sei nicht ihre Schuld gewesen, dabei wusste sie, dass das eine Lüge war. Sie trug alle Schuld, und sie trug schwer daran.
    Aber auch jetzt, während sie Fanny erzählte, wie es gewesen war – dieses Leben davor –, brachte sie es nicht über sich, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Sie schaffte es einfach nicht.
    «Und dann war es vorbei», sagte sie nur. «Von einem Tag auf den anderen.»
    Fanny fragte nicht nach. Sie verstand, dass es Dinge gab, die man nicht aussprechen durfte, weil sie dann jedes Mal ein kleines bisschen wahrer wurden. Ihr genügte zu wissen, dass Audrey diesen Mann mal geliebt hatte. Dass sie ihn hatte

Weitere Kostenlose Bücher