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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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sie sich vor einem ganzen Leben eine Zukunft erträumt hatte.
    Da stand er auf halber Höhe auf der Treppe, ein Champagnerglas in der Hand, den Blick auf sie gerichtet. Er hob das Glas, und sie nickte ihm zu.
    Sie bemerkte so vieles auf einmal. Seine Haare, die seit der letzten Begegnung vollständig ergraut waren. Seine traurigen Augen. Die Uniform, die er trug. Und ihr entging auch nicht, wie alle anderen Gäste ihn misstrauisch musterten.
    Benjamin.
    Audrey schüttelte den Kopf. Sie fuhr herum und floh.
     
    Sie wünschte so sehr, Matthew stünde jetzt an ihrer Seite.
    Und als Benjamin nun langsam die Stufen hinabschritt und einen Diener passierte, von dessen Tablett er ganz beiläufig ein zweites Glas Champagner nahm, wurden ihr die Knie weich. Audrey wollte weglaufen, schreien, irgendwas tun, damit er sie nicht ansprach, doch sie war so starr wie ein Kaninchen vor der Schlange.
    Wenn ich mich nicht bewege, ist er gleich bei mir. Zehn Sekunden noch. Fünf. Jetzt.
    «Hallo, Audrey.»
    Er reichte ihr das Champagnerglas, beugte sich vor, nahm ihre Hand. Ein vollendeter Handkuss. Dann richtete er sich auf, und er lächelte. «Ich habe gehört, dass du hier bist. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dich schon so bald zu treffen.»
    «Benjamin …» Ihre Stimme klang piepsig, und sie nahm rasch einen winzigen Schluck Champagner.
    «Euer Freund, dieser Mr. Tuttlington», er machte eine ausholende Bewegung, die das ganze Haus umfasste, «meinte, ihr wäret die meiste Zeit des Jahres auf eurer Farm. Wie heißt sie noch?»
    «The Brashy.»
    Sie atmete tief durch.
    «Richtig, The Brashy. Hübscher Name, übrigens. Nun, ich dachte, du freust dich vielleicht, mich zu sehen, aber gerade siehst du mich an wie sieben Tage Regenwetter.»
    Sie senkte den Kopf. Zu viele Gedanken stürzten auf sie ein, und weil sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte, tat ihr der Champagner nicht gut. Ihr war schwindelig und übel.
    Was tust du hier?, wollte sie ihn fragen. Warum quälst du mich? Wieso können wir uns nicht einfach in Ruhe lassen nach allem, was war?
    Am quälendsten aber war die Frage, die sich in ihr festfraß: Warum zittere ich am ganzen Körper, als hätte ich dich wirklich vermisst?
    «Warum tust du mir das an?», flüsterte sie.
    Er nahm ihren Arm und führte sie fort von dem Gedränge. Durch den schmalen Salon erreichten sie die Terrasse, und stumm gingen sie weiter. Benjamin ließ ihren Arm los, und sie schritt weiter neben ihm her.
    Ihr Körper erinnerte sich an seinen. Ihre Schritte fielen mit seinen in einen Gleichschritt, ihr Gesicht wandte sich ihm zu, und sie fühlte sich anders.
    Vielleicht der Schluck Champagner, redete sie sich ein.
    Aber dieses Flattern tief in ihrem Innern kam nicht vom Champagner.
    «Ich bin mit Lettow-Vorbeck hier. Also, nicht hier im britischen Protektorat, sondern im Süden. In Tanganjika.»
    Immer noch der tapfere, preußische Soldat. Sie schüttelte den Kopf.
    «Ich kann das nicht glauben …»
    «Sieh mich an, Audrey.»
    Sie hob den Kopf. Seine Augen hatten das verwaschene Blau von früher. Er wirkte müde, und sie war versucht, die Hand zu heben und seine Wange zu streicheln.
    Ich darf das nicht. Er ist ein Fremder. Es ist vier Jahre her.
    Das war das Schwierige daran. Früher – vor vier Jahren – war er kein Fremder gewesen. Damals hatte sie sich eine Zukunft mit ihm erträumt, die jetzt Vergangenheit war.
    Die nie gewesen war.
    «Ich bin nicht deinetwegen hier. Lettow-Vorbeck hat sich seine Leute ausgesucht, wie er es immer tut. Und ich gehöre zu denen, die er schätzt.» Er zuckte mit den Schultern. «Ich möchte auch gar nicht, dass wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen oder dass wir peinlich berührt voreinander stehen. Oder uns gegenseitig zerfleischen. Was geschehen ist …»
    … ist geschehen, dachte sie, als er den Satz nicht zu Ende sprach.
    «Ja.» Sie nickte.
    «Wie geht es deiner Familie? Den Eltern? Alfred?»
    Sie schüttelte den Kopf. Das geht zu schnell, dachte sie. Zu schnell schlich Benjamin sich wieder in ihr Herz und ihren Verstand, zu schnell vergaß sie, was sie hier in Ostafrika war. «Nicht», flüsterte sie. Suchend schaute sie sich um, aber Fanny war abgetaucht. Jetzt verstand Audrey, warum sie sich so unsichtbar machte wie nur möglich. Sie hatte denselben unbändigen Wunsch, im Boden zu versinken. Alles war besser, als Benjamins peinliche Fragen zu beantworten.
    Aber sie waren in Gesellschaft. Allein deswegen kam es nicht in Frage, abzuweichen

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