Am Fuß des träumenden Berges
vermeiden ließ, trat er auch nicht auf die Veranda. Er hatte ihr erklärt, das Haus sei zu groß, um es mit Leben zu füllen. Sie hatte darauf erwidert, sie gebe sich alle Mühe, dieses Haus mit Leben zu füllen. Das war vor einigen Monaten gewesen, als sie gerade erst von ihrer zweiten Schwangerschaft erfahren hatte.
«Es ist ein heißer Tag, Memsahib.»
«Heiß und feucht, ja.» Sie blieb vor ihm stehen und wartete. Kinyua brauchte Zeit. Wenn er mit einem Anliegen zu ihr kam, redete er zunächst meist über alles Mögliche, über das Wetter, über Bücher, die Teefaktorei, über Ngai und darüber, welches Vieh sich letzte Nacht ein Löwe geholt hatte. Erst dann kam er auf sein Anliegen zu sprechen. Es hatte lange gedauert, bis sie begriff, warum er das tat, doch dann gefiel es ihr. Denn sie erfuhr so vieles über ihn und fühlte sich ihm näher. Manchmal reagierte sie inzwischen auf die direkte, unumwundene Art ihrer europäischen Freunde, sofort zur Sache zu kommen, fast verschreckt, weil sie es von Kinyua so anders gewohnt war.
«Du solltest nicht über die Felder laufen heute.»
Sie musterte ihn überrascht. «Warum nicht?»
«Kein schöner Anblick im Dorf für eine Memsahib. Wir schlachten Ziegen.»
«Ah, vielen Dank.» Seit sie einmal ins Dorf spaziert war, als die Frauen gerade drei Ziegen die Kehle aufgeschlitzt hatten, warnte Kinyua sie jedes Mal. Sie hatte sich fast übergeben müssen, weil der Anblick und der schwere Geruch von geronnenem Blut zu viel für sie waren.
«Wenn du das nächste Mal vor deinem Bücherregal stehst, Memsahib, vielleicht fällt dir dann ein Buch auf, von dem du denkst, ich könnte es lesen.» Er sagte das so vorsichtig, dass Audrey sich das Lachen verbeißen musste.
Er war ein gelehriger Schüler gewesen. Nach wenigen Wochen konnte er lesen, und er schrieb auch ganz passabel, wenngleich seine Buchstaben tanzten wie «die Pranken einer Löwin, die sich an eine Gazelle heranschleicht», wie er es nannte. Doch sie war stolz auf ihn, und wenn er sie bat, ihm ein Buch auszuleihen, tat sie das gerne. Seine Wissbegier rührte sie auf seltsame Art.
Langsam, während ihrer Unterrichtsstunden, war ihr die Erkenntnis gekommen, dass er nicht anders war. Nicht klüger, nicht dümmer. Nicht überlegen oder unterlegen, nur weil er als Kikuyu geboren war. Es war eine überraschende Erkenntnis gewesen, aber auch befreiend und beglückend. Und doch ertappte sie sich dabei, wie sie voller Stolz an ihn dachte, nicht wie sie an einen erwachsenen Mann denken sollte, der sein eigenes Leben auf der anderen Seite des Wäldchens in seinem Dorf führte, sondern wie an einen Wilden, den sie bezähmt hatte.
Dann schämte sie sich manchmal. Matthew und alle anderen Siedler dachten so über ihre Kleinbauern, die Tee- und Kaffeepflücker, die Boys und Lastenträger. Und es war irgendwie nicht richtig.
«Ich kann dir auch jetzt ein Buch holen, wenn du fünf Minuten wartest.»
Er schüttelte den Kopf. «Du suchst das Buch aus, Memsahib. In Ruhe. Und ich komme morgen wieder und hole es ab.»
«Gut», sagte sie. Sie freute sich immer, wenn er kam.
«Und geh heute nicht zum Dorf.»
«Das werde ich nicht», versprach sie.
Kinyua nickte. Er drehte sich um und ging wieder. Audrey blieb stehen. Sie bewunderte seine geschmeidigen Bewegungen, seine hohe, schlanke Gestalt und den rasierten Kopf, den er stolz erhoben trug. Seine Schritte waren ganz weich, als berührten die nackten Füße kaum den Rasen, und er überquerte den Kiesweg, ohne zu zögern, obwohl sie aus eigener Erfahrung wusste, dass die Kiesel sich schmerzhaft in die Fußsohlen bohrten.
Erst als er verschwunden war, kehrte sie zur Veranda zurück. Sie setzte sich und biss in ihr Haferbrötchen.
Fanny fragte nicht nach. Sie beendeten das Frühstück, jede hing dabei ihren eigenen Gedanken nach.
Matthew hielt sein Versprechen. Er lud Benjamin zur nächsten Safari ein, die sie ins Masai Mara führte.
Audrey hatte lange gezögert, ehe sie sich einverstanden erklärte, die beiden Männer mit Fanny zu begleiten. Allein wollte Fanny nicht mitkommen, aber Audrey wusste, mit welcher Leidenschaft ihre Freundin diese Reisen genoss. Jedes Mal schwärmte sie noch Wochen später von der Lagerfeuerromantik, von Tagen auf der Pirsch und Nächten im Zelt. Von den Löwen, die sie im Morgengrauen an den Wasserstellen beobachteten, oder von den Gnuherden, die über die weite Ebene zogen.
Das Masai Mara lag im Südosten, zweihundert Meilen Weg lagen
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