Am Grund des Sees
Schnaps bechert, während draußen ein Schneesturm tobt?
Francesca hielt neben ihm an. Contini sah, dass Renzo fehlte, und fragte, als er sich neben sie setzte: »Ist was passiert?«
»Kann man so sagen …«
Zwar hatte Francesca den Brief nicht mehr, aber sie wusste, was darin stand: Hinter dem roten Gemälde war das Versteck. Sie fuhren gleich los, ohne auf eine Nachricht von Renzo zu warten, und unterwegs erzählte sie ihm, was geschehen war.
»Wenn dieser Typ sich mit Calgari kurzschließt«, sagte Contini, »kommen wir wahrscheinlich zu spät …«
»Er hat mich wirklich total überrumpelt«, sagte sie entschuldigend.
»Wieso wusste er von dem Brief? Hast du mit jemandem gesprochen?«
»Mit niemandem außer dir«, antwortete Francesca.
»Und ich nur noch mit Malfanti und Renzo. Ich frag mich, ob …«
Nachdem Francesca fuhr, hatte Contini Muße zu telefonieren. Chico Malfanti meldete sich nach dem ersten Läuten, sein Tonfall klang leicht erschüttert.
»Wir haben ein Problem, Contini.«
Der Detektiv seufzte. »War ja nicht anders zu erwarten. Was ist es?«
»Mein Chef hat unser Telefonat mitgehört. Über eine Nebenstelle. Ich hab’s nicht mitgekriegt.«
»Woher wissen Sie dann …«
»Ich hab ein Geräusch in der Leitung gehört, nachdem Sie schon aufgelegt hatten. Dann war ich in seinem Büro, das leer war, aber der Lampenschirm war noch heiß - offensichtlich hat er sich unbemerkt davongeschlichen.«
Contini war verblüfft. Gut, Calgari hatte das Gespräch mitgehört. Aber wie hatte er so schnell jemanden nach Locarno geschickt? Und wen? Hatte er Komplizen?
»Sind Sie sicher, dass Ihnen jetzt keiner zuhört?«, fragte er.
»Ja, klar. Hören Sie, es tut mir leid …«
»Schon gut, jetzt ist keine Zeit.« Contini erzählte, was in Locarno geschehen war, während Francesca vorsichtig die Serpentinen bergab steuerte. Die Straße war tief verschneit, und die Sichtweite betrug nur wenige Meter; zwar hatte Renzos Mitsubishi einen guten Allradantrieb und stabile Schneeketten an allen vier Rädern, dennoch geriet der Wagen in den Kurven leicht ins Rutschen.
»Verstehe ich nicht«, sagte Malfanti, »wer wird denn mit Calgari gemeinsame Sache machen?«
»So wie ich das sehe«, sagte Contini, »kommt dafür nur einer infrage: Amedeo Finzi. Calgari wird ihn um Hilfe gebeten haben, um Desolinas Aussage verschwinden zu lassen.«
»Was hat denn Finzi mit der Sache zu tun? Er hat aber doch keinen umgebracht, oder?«
»Nein, aber er wusste alles. Und er hat selbst Dreck am Stecken, und ich bin der ideale Sündenbock: Wenn die Polizei sich auf mich einschießt, profitieren sie alle davon. Hören Sie, Malfanti, es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder hat mein Freund den Brief zurückgeholt, bevor Finzi ihn gelesen hat, oder Finzi und Calgari wissen über die versteckten Dokumente Bescheid.«
»Und was dann?«
»In dem Fall, scheint mir, werden sie vor uns dort sein. Die Straße hier ist eine Katastrophe, ich weiß nicht, wie’s im Süden ist, aber wenn es weiterschneit …«
»Hier in Bellinzona«, sagte der Anwalt, »schneit es wie verrückt. Können wir nicht alles der Polizei erzählen?«
»Was alles? Dass Ihr Chef ein Mörder ist, dass es Dokumente gibt, die das beweisen? Dass Finzi ein Lump ist? Die Hände werden sie sich reiben und uns beide zusammen einlochen.«
»Und bei Signora Fontana anrufen?«
»Scheint nicht zu Hause zu sein. Ich versuch’s noch mal. Allerdings sind die anderen sicher schon auf dem Weg nach Villa.«
»Und was haben Sie vor?«
»Sie sind näher dran«, sagte Contini. »Sehen Sie sich in der Lage, es zu versuchen?«
»Wie bitte?«
»Ob Sie sich in der Lage sehen, nach Villa Luganese zu fahren?«
»Aber …«
»Die fraglichen Dokumente befinden sich hinter dem roten Gemälde im Arbeitszimmer. Wir sind unterwegs und versuchen unser Möglichstes, um rechtzeitig zu kommen, aber …«
Dem Anwalt hatte es sekundenlang die Sprache verschlagen. Dann stieß er die Luft aus und rief: »Okay! Sagen Sie mir Bescheid, sobald Ihr Freund sich meldet, dann mach ich mich gegebenenfalls auf den Weg. Jetzt stecke ich sowieso schon bis zum Hals mit drinnen - Sie wissen ja, wie es ist.«
»Allerdings, das weiß ich. Ich melde mich!«
Die Stufen der Collegiata-Kirche in Bellinzona waren zur Snowboard-Piste geworden. Jugendliche hatten den Schnee zu einer Schanze, einer behelfsmäßigen Quarterpipe, modelliert, an der sich der Snowboard-Nachwuchs übte und in Straight Jumps
Weitere Kostenlose Bücher