Am Grund des Sees
Rest ihres Satzes erstickte die Hand des Mannes auf ihrem Mund.
Renzo läutete noch einmal und rief von draußen: »He, antworte, was ist?«
Der Mann, der ihr noch immer den Mund zuhielt, zerrte Francesca zur Tür. Dann stieß er sie jäh von sich, riss die Tür auf und war draußen. Francesca prallte unsanft gegen die Wand, fuhr herum und sah, dass der Mann sich auf den verdutzten Renzo gestürzt hatte. Trotz seines gezierten Gehabes war er muskulös genug, um sogar einen Renzo Malaspina ins Wanken zu bringen. Zu Fall brachte er ihn allerdings nicht.
Renzo fand am Treppengeländer Halt. Mit einem Kniestoß trieb er den Unbekannten zurück und versetzte ihm dann eine wohlgezielte Gerade, die ihn die Treppe hinunterpoltern ließ. Der Mann brauchte ein paar Sekunden, um wieder zur Besinnung zu kommen.
»Alles okay?«, fragte Renzo, an Francesca gewandt.
»Er hat den Brief an Contini!«, rief sie. »Nimm ihn ihm ab!«
Renzo drehte sich um und sah, dass sich der Mann auf dem Treppenabsatz entlang der Wand aufgerichtet hatte, und als er Renzo die Stufen herab auf ihn zukommen sah, fand er im Handumdrehen seine Kräfte wieder und stürmte treppab. Renzo zögerte, blickte Francesca an.
»Soll ich ihm nach? Aber Contini …«
»Ich fahre selbst!«, sagte sie. »Gib mir dein Auto! Lass ihn nicht laufen!«
Renzo war nicht überzeugt, ob es richtig war, Francesca allein fahren zu lassen. Doch er war es gewohnt, schnelle Entscheidungen zu treffen, und der Mann drohte ihm zu entwischen. Er warf ihr Autoschlüssel und Fahrzeugausweis zu.
»Steht am Bahnhof!«, rief er und rannte los, die Treppe hinunter. Draußen vor dem Haus sah er den Mann das von Schneehaufen verengte Trottoir entlangjoggen. Er heftete sich an seine Fersen.
Francesca verlor keine Zeit. Rasch schlüpfte sie in Mantel und Stiefel und hastete zum Bahnhof. Unterdessen hatte es wieder zu schneien begonnen, die Flocken deckten die von Renzo und seinem Angreifer hinterlassenen Fußspuren bereits zu.
Ein Unbekannter war in ihre Wohnung eingedrungen und hatte sie misshandelt; wieder war sie in eine Sache hineingeraten, die eine Nummer zu groß für sie war; und Contini steckte wie üblich in der Klemme. Doch aus der Tiefe ihres Gefühlschaos stieg, unerklärlicherweise, ein Funken Fröhlichkeit empor, der sie zuversichtlich stimmte
Contini wartete. Es war klar, dass vieles davon abhing, wie rasch er in den nächsten Stunden handeln konnte. Rechtsanwalt Calgari wusste nichts von Desolinas Brief und fühlte sich sicher. Also hatte Contini eine Chance, sich zu entlasten: Er musste nur irgendwie unbemerkt nach Villa Luganese gelangen.
Aber Francesca und Renzo kamen nicht.
An die Hausmauern gedrückt, den Schal vor dem Gesicht und mit schneenassen Haaren ging der Detektiv die Hauptstraße entlang. Als sein Telefon läutete, fürchtete Contini weitere Hiobsbotschaften.
Aber er vernahm Gionas Stimme und traute seinen Ohren nicht: Niemals, seitdem er ihn kannte, hatte sich der alte Zivilisationsfeind in solche Nähe eines »telefonischen Apparates«, wie er zu sagen pflegte, gewagt.
»Hei, Junge, bist du heil angekommen?«
»Ich ja, aber du? Und wie kommt es, dass du telefonierst? Und wo …«
»Nur die Ruhe«, unterbrach ihn Giona. »Ich telefoniere mit dem Apparat eines jungen Mannes namens Elvis Tarlisetti, welcher so freundlich war, die Nummer, auf die ich in dem mir vor Jahren von dir überreichten Taschenkalender gestoßen bin, für mich zu wählen.«
»Elvis Tarlisetti?«, fragte Contini. »Wer ist das denn?«
»Der Polizeibeamte, der dich einlochen wollte. Weißt du, nachdem ich alles ausführlich erklärt hatte, kamen wir zu dem Schluss, dass der Schnee ein Ausmaß erreicht hat, welches jeden Versuch, ins Tal zurückzukehren, als unverantwortlichen Leichtsinn erscheinen lässt, vor allem wenn man sich im Wald nicht hundertprozentig auskennt. Deshalb habe ich dem netten Herrn Elvis und seinen Kollegen Gastfreundschaft in meiner bescheidenen Hütte angeboten.«
»Du spinnst!«
»Durchaus nicht. Ein paar Gläschen Schnaps konnten unsere Misshelligkeiten leicht bereinigen …«
»Entschuldige, Giona«, sagte Contini, »aber hier kommen Renzo und Francesca, ich muss gehen - bitte pass auf dich auf, lass dich nicht …«
»Was?«
»Ach, egal«, sagte der Detektiv. »Ciao und danke!«
Er wusste selbst nicht, was er ihm eigentlich sagen wollte. Was hätte man einem alten Einsiedler zu raten, der mit fünf Polizisten in einer Berghütte sitzt und
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