Am Grund des Sees
reden.«
»Ich verstehe nicht, was …«
»Ich weiß, dass du versuchst, dich gegen mich abzusichern, aber ich kann dir sagen, dass ich nicht die Absicht habe, irgendetwas verlauten zu lassen. Mir ist es recht, wenn sie Contini junior verhaften.«
Calgari schwieg. Dann sagte er, hastig, beinahe ohne Atem zu holen. »Hör zu, ich habe Contini gehört, am Telefon will ich darüber nicht reden, nur so viel: Er sagt, dass Desolina einen Brief geschrieben hat, in dem sie alles erzählt, und diesen Brief hat eine gewisse Francesca Besson, die in Locarno wohnt und anscheinend nach Corvesco kommen will - also wenn du jemanden in Locarno kennst … sieh selber.«
Dem fügte er nichts weiter hinzu, nach Abschluss seiner Tirade beendete er das Gespräch. Finzi aber ließ sich nie etwas zweimal sagen, und er war auch keiner, der sich von meteorologischen Ausnahmezuständen einen Knüppel zwischen die Beine werfen ließ. Er dachte ein paar Sekunden nach, dann tippte er eine weitere Telefonnummer.
Contini und Tommi waren beide ohne Mutter aufgewachsen. Contini fragte sich manchmal, ob das nicht die Ursache allen Übels war. Außerdem hatten beide früh ihren Vater verloren: Andrea Porta war wenige Jahre nach Ernesto Contini gestorben, alkoholkrank und fern der Heimat.
Während er in Gionas Spuren durch den tief verschneiten Wald abstieg, dachte er über Tommi nach. Wie war er bloß auf die Idee gekommen, Pellanda und Vassalli umzubringen? Calgari hatte ihn sich hörig gemacht, hatte ihn getäuscht und ausgenutzt. Aber er hatte ihn sicher nicht gezwungen zu morden.
Tommis Vater hatte sich von dem Geld, das er als Entschädigung für die durch den Dammausbau notwendig gewordene Enteignung erhalten hatte, in Bellinzona niedergelassen, wo er bei der Eisenbahn arbeitete. Aber das Leben freute ihn nicht mehr, er hatte zu trinken angefangen und war gewalttätig geworden, und schließlich hatte man ihn entlassen. Wer weiß, wie diese Ereignisse in Tommis Seele weitergewirkt hatten, wer weiß, wie viel Hass sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte …
»Stopp«, flüsterte Giona, »da ist wer!«
Sie duckten sich hinter eine Bodenfalte und vernahmen den Ruf: »Halt! Polizei! Keine Bewegung!«
Das war’s dann wohl, dachte Contini. Jetzt gibt es keine Flucht mehr.
»Schau«, raunte Giona ihm zu, »fünf Taschenlampen! Du bist gefährlicher, als ich dachte, Junge.«
»Hoffentlich schießen sie nicht aus lauter Angst vor mir«, flüsterte Contini zurück und wollte sich aufrichten.
»Was tust du!« Giona riss ihn wieder zu Boden. »Noch haben sie dich nicht. Ich halte sie hin, und du mach dich derweil aus dem Staub.«
»Aus dem Staub! Mann, wir sind doch nicht im Western …«
Aber Giona blieb dabei: Bei diesen Witterungsbedingungen, bei dieser Sicht käme er, wenn er nur die ersten hundert Meter schaffte, völlig unbemerkt durch. Unterdessen wollte Giona mit den Polizisten verhandeln und Zeit schinden.
»Aber die merken doch, dass du allein bist.«
»Sicher nicht.« Giona nahm Contini den Hut ab. »Ich lass sie einfach ab und zu sehen, dass du neben mir bist.«
Sprach’s und hob den Hut ein Stück über die verschneite Erhebung, hinter der sie kauerten.
Contini schnaubte. »Du hältst dich wirklich für einen Westernhelden, wie?«
»Jetzt mach schon, hau ab!« Giona warf ihm einen Seitenblick zu. »Ich bleibe hier mit meinem falschen Contini, und du geh und finde diese Dokumente, wenn du nicht hinter Gittern enden willst!«
Contini gehorchte. Geduckt und barhäuptig schlich er davon. Giona und die Polizisten waren bald außer Sichtweite und er mitten im Wald, fernab von allen Pfaden. In einer Winternacht, wenn es wirklich stockfinster ist, spricht der Wald zu dem, der zuhört. Jedes Rascheln, jedes Knarzen eines Astes, jedes Plumpsen fallender Schneelasten erzählt eine Geschichte. Ehe er sich wieder auf den Weg machte, stand Contini ein paar Sekunden lang reglos da und lauschte.
Irgendwo in dieser Nacht streiften die Füchse auf der Suche nach Nahrung lautlos durch den Wald. Die alten Bäume ächzten unter dem Gewicht des Schnees, und das Eis hielt die Wildbäche fest in der Zange. Contini setzte sich wieder in Bewegung. Das war sein Revier, sein Wald. Und er würde jetzt, in dieser Nacht, ein für alle Mal mit der Vergangenheit abschließen.
22
Der letzte Akt
Francesca war nervös. Contini hatte sie gebeten, auf Renzo zu warten und mit ihm zusammen nach Corvesco zu kommen. Aber hier herumzusitzen, nichts
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