Am Grund des Sees
durch die Luft flog.
Die Landung erfolgte allerdings meistens eher unsanft.
Rechtsanwalt Calgari blieb einen Moment stehen und sah den Snowboardern zu. Er war auf dem Weg zum Parkhaus Cervia, wo er sein Auto abgestellt hatte, da er nicht damit gerechnet hatte, so bald wieder fahren zu müssen.
Dann aber hatte ihn Finzi wieder angerufen und ihm mitgeteilt, was in Desolinas Brief stand. Zwar hatte er ihn zu beschwichtigen versucht - Reg dich nicht auf, ich schicke jemanden und lass das Zeug verschwinden -, aber Calgari war ja kein Idiot: Mit solchen Dokumenten lieferte man sich jedem beliebigen Erpresser aus. Deshalb gab es nur eine Antwort: Nein, vielen Dank, bemüh dich nicht, ich mach das schon.
Ich mach das schon, ja, aber wie? Er musste Schneeketten aufziehen und schleunigst nach Villa Luganese fahren, bevor Contini dort ankam. Und das war noch gar nichts: Dort angelangt, musste er sich durch Bezirzung der Signora Fontana Zutritt zum Haus verschaffen und verrichteter Dinge wieder verschwinden, bevor Contini auftauchte.
Wenn man bedenkt, dass er nie jemanden umbringen wollte …
Das Ganze war doch bloß die Verkettung verhängnisvoller Umstände gewesen. Es war einfach passiert, eigentlich fast zufällig. Als er begriffen hatte, dass Tommi der Mörder von Pellanda war, wollte er ihn stoppen. Aber dann kam Contini und stellte Fragen nach seinem Vater und schien gewillt, dieser uralten Sache jetzt doch noch auf den Grund zu gehen: Was, wenn er herausfand, was damals passiert war? Was, wenn er die Leichen entdeckte und mit Finzi sprach, mit Desolina?
Er hatte kein Risiko eingehen dürfen. Er musste sich dieses Detektivs entledigen und bei der Gelegenheit auch gleich diesen anderen Irren loswerden. Deshalb hatte er eine neue Mailadresse eingerichtet; deshalb hatte er Tommi ermutigt, Contini zu schreiben, und ihm in Continis Namen geantwortet.
Vorsichtig ging er die schneeglatte Via Camminata entlang und nahm eine Abkürzung quer über die Piazza Cervo zum Parkhaus. Die Autos, die noch auf dem Platz standen, hatten sich in Natur zurückverwandelt: Sie waren nur noch Schneehaufen, vereinzelte Hügel in der geschlossenen Schneedecke, aus denen hier und dort ein Scheibenwischer, eine Antenne ragten.
Scheußliches Schlamassel, in das er da geraten war!
Als er vor zwanzig Jahren die beiden Leichen dem Stausee überlassen hatte, war ihm diese Lösung genial erschienen; nie hätte er gedacht, dass sie je wieder zum Vorschein kämen. Sicher, Desolina Fontana ahnte etwas. Zwar war sie eingeschüchtert genug und weit fort, in Spanien. Aber es ist doch immer dasselbe: Wenn man einen Zeugen zurücklässt, lauert hinter jeder Ecke die Angst.
Und dann kommt sie doch glatt aus Spanien zurück, diese Verrückte, dachte Calgari, als er die Schneeketten aus dem Kofferraum seines Cherokee holte, und zwingt mich, auch sie aus dem Weg zu räumen.
Zum Glück waren Polizei und Justiz so auf Porta und Contini fixiert, dass niemand an den unverdächtigen Rechtsanwalt Giorgio Calgari dachte. Jetzt galt es, den letzten Akt nicht zu verpfuschen.
Was aber, wenn ihm in Villa Luganese Contini über den Weg lief?
Nun, im Handschuhfach seines Wagens lag, in ein Tuch gehüllt, eine Pistole, eine SIG P 228. Es konnte ja nicht so schwierig sein, einen weiteren Selbstmord zu inszenieren.
23
Ein alter Blues
… bittet die Polizei die Bevölkerung, auf Autofahrten zu verzichten, sofern sie nicht unbedingt erforderlich sind; es sind bereits mehrere Straßen unpassierbar geworden, und auf der Autobahn A2 staut sich der Verkehr aufgrund eines …
Contini drehte das Radio wieder ab. Laut Swissinfo hatte sich kurz hinter dem Autobahndreieck Bellinzona-Nord ein Unfall ereignet. Um nicht stecken zu bleiben, fuhr Francesca von der Autobahn ab und bog auf die Kantonstraße am rechten Ufer des Ticino.
Immer wieder passierten sie am Straßenrand stehende Pannenautos mit blinkenden Warnlichtern, die auf Hilfe warteten. Nachdem sich alle ohnehin nur kriechend fortbewegen konnten, waren es keine schlimmen Unfälle - aber ihnen durfte auf keinen Fall etwas passieren: nicht auszudenken, wenn sie liegen blieben! Deshalb schlich Francesca nervös und extrem vorsichtig dahin, während Contini versuchte, Signora Fontana zu erreichen.
»Sie meldet sich noch immer nicht.«
»Tja«, sagte Francesca. »Aber du sagst, sie wird dir sowieso nicht glauben.«
»Ich weiß nicht …«, murmelte Contini und starrte auf sein Mobiltelefon. »Manchmal denke ich, dass
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