Am Grund des Sees
tun zu können außer zum x-ten Mal einen Brief zu lesen, auf den sie sich keinen Reim zu machen wusste, das war unerträglich.
Diese Desolina Fontana hatte nichts besonders Aufschlussreiches geschrieben. Nur dass der Rechtsanwalt Calgari aus Bellinzona-San Giovanni der Mann sei, den Contini suche. Und es folgte der Hinweis auf irgendein Dokument, das alles erklären werde; sie habe es in Villa Luganese hinter dem roten Gemälde versteckt.
Bis auf das rote Gemälde fand Francesca das alles recht rätselhaft, aber was Contini so trieb, war ihr so oder so ein Buch mit sieben Siegeln. Sie zweifelte nicht an seiner Unschuld, obwohl in der Zeitung stand, er werde polizeilich gesucht. Welche Rolle aber spielte dieser Anwalt? Und was hatte es mit den Geldwäschereigeschäften auf sich, die Contini am Telefon angedeutet hatte?
Francesca dachte an den Sommer zurück, in dem sie ihn kennengelernt hatte. Auch damals war sie in etwas hineingeraten, das größer war als sie. Und mit Elia hatte für sie ein gewundener Weg voller Sackgassen und Umwege begonnen: Sie suchten einander, bemühten sich, einander einen Einblick in die Welt zu geben, aus der sie kamen, er aber hatte sich immer mehr verschlossen, hatte sich immer weiter zurückgezogen.
Und jetzt sollte Renzo kommen, und Francesca sollte sich, wieder einmal, auf die Suche nach Elia machen.
Als es läutete, stürzte sie zur Tür. Sie wusste nicht, weshalb es Contini dermaßen pressierte, aber wenn er sie schon bat, sich zu beeilen, dann hieß das - so weit kannte sie ihn -, dass ihm das Wasser bis zum Hals stand.
»Renzo, endlich …«
Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen. Dafür lächelte der Unbekannte, der vor ihr stand, umso enthusiastischer.
»Signorina Besson! Sie wissen gar nicht, wie mühsam es war, Sie zu finden! Noch dazu bei diesem Schnee - die öffentlichen Verkehrsmittel zusammengebrochen, wie Sie sich denken können, und auch die Straßen ein komplett …«, Francesca versuchte die Tür zu schließen, doch der Fremde wand sich einfach durch den Türspalt, »… ein komplettes Desaster, Sie haben keine Vorstellung!«
Francesca wich zurück und überlegte, wie sie den Mann wieder loswurde. Für einen Handelsvertreter war er mit seinem grauen Maßanzug unter dem Kaschmirmantel zu gut gekleidet, und dieses gebräunte Gesicht, wie von einem gealterten Star auf der Titelseite einer Illustrierten …
»Also, Signorina …«
»Ich kaufe ganz bestimmt nichts!«
»Kaufen, wieso kaufen? Nein, nein, ich bin hier, um was zu holen!«
»Wie bitte?«
»Hm, schauen wir mal.« Der Mann sah sich forschend um. »Wenn ich recht informiert bin, besitzen Sie einen Brief von einer gewissen Desolina Fontana - sonderbarer Name, finden Sie nicht?«
Francesca riss die Augen auf und wich noch weiter zurück. Ihr Herz schlug schneller. Der Brief lag, offen und unübersehbar, auf dem Tisch in ihrem Wohnzimmer.
Fieberhaft dachte sie nach. Auf keinen Fall diesen Menschen ins Wohnzimmer lassen … versuch Zeit zu gewinnen! Abermals wich sie ein Stück zurück, wechselte dabei aber die Richtung. Der Mann warf ihr wieder sein breites Lächeln zu und sagte: »Signorina, Sie werden verstehen, dass es mir wirklich widerstrebt, aufdringlich zu werden. Aber Sie sollten mich nicht zum Narren halten.«
Und er steuerte in die entgegengesetzte Richtung. Francesca beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Sie stürzte an ihm vorbei ins Wohnzimmer und auf den Tisch zu. Der Unbekannte aber bewies eine verblüffende Reaktionsschnelligkeit trotz fortgeschrittenen Alters. Er warf sich auf sie und packte sie am Arm, während er sie mit einem Bein zu Fall brachte. Bevor sie aber auf dem Boden auftraf, fing er sie auf, legte sie weich ab und sagte: »Verzeihen Sie.«
Dann trat er auf den Tisch zu, nahm rasch den Brief und steckte ihn ein.
Francesca war unterdessen wieder aufgesprungen und wollte ihn angreifen, doch in seinem Blick lag etwas, das sie auf Distanz hielt.
»Ich stelle fest, Signorina, dass Sie inzwischen die wahre Tragweite der Situation erfassen. Ich nehme diesen Brief jetzt mit, und Sie werden mich begleiten. Einverstanden?«
Francesca schlug das Herz vor Furcht bis zum Hals. »Warum?«, fragte sie.
»Oh, keine Sorge: Ich will Ihnen nur ein paar Fragen stellen und vermeiden, dass Sie jemand anderem Fragen stellen.«
»Aber ich …«
Wieder läutete es an der Tür.
»Erwarten Sie jemanden, Signorina?«
»Renzo!«, schrie Francesca gellend. »Renzo, pass auf …«
Den
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