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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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den man sich denken konnte, todmüde und mit lediglich einer vagen Ahnung, wo er hinmusste und was ihn dort erwartete, durchaus zufrieden sein. Und warum war er in dieser Situation? Weil er ein Dokument beschaffen musste, das, vielleicht, einen Mörder auffliegen ließ. Einen Mörder, der, vielleicht, sein Chef war. Sein Chef, der, vielleicht, ebenfalls auf dem Weg nach Villa Luganese war.
    Vielleicht?
    Er hatte beschlossen, Contini zu vertrauen, also Schluss mit dem Zweifel, freie Bahn für Recht und Gerechtigkeit!
    Er musste sich beeilen. Sonst traf er erst nach Finzi oder seinem Chef ein. Und wenn sein Chef wirklich zwei Menschen ermordet hatte, dann wollte ihm Chico lieber nicht in einer stockfinsteren Unwetternacht begegnen.
    Die Autobahn erschien ihm wie ein Korridor - wie ein endloser Gang aus einem Alptraum, du rennst und rennst, aber der Korridor wird immer länger, und irgendwann meinst du in einen Abgrund zu fallen, immer tiefer hinab … Chico schreckte auf. Was fiel ihm ein? Ein Schneesturm, ein Abenteuer voller Mörder, und er schlief am Steuer ein?
    Damit ihm das nicht noch einmal passierte, schaltete er das Radio ein. Aber der Empfang war sehr mäßig. Und was gibt es Besseres, um uns in dieser unwirtlichen Nacht bei Laune zu halten, als einen alten Blues … Chico wechselte den Sender, hoffte auf Verkehrsnachrichten. Nach diesem Stück von Tschaikowski, interpretiert von … Hochtourig quälte sich das Auto bergauf, jetzt bloß nicht stecken bleiben! Du bist klasse! Einen ganz lieben Gruß von Chantal an ihre Freundin Lilli! Chico blinzelte hypnotisiert in die tanzenden Schneeflocken im Scheinwerferlicht. Ich aber gebe euch ein weiteres Gebot, spricht der Herr, liebet einander ... Sobald er nur ein bisschen mehr Gas gab, drehten die Räder durch. Die Kaltfront, die derzeit über dem Alpensüdkamm liegt, zeigt keine Anzeichen einer Abschwächung, es ist weiter mit massiven Schneefällen zu rechnen. Morgen …
    Die Stimme verlor sich in einem Rauschen, und Chico drehte das Radio wieder ab. Adrenalin wühlte ihm den Magen auf, dennoch schwappte gelegentlich eine Welle der Müdigkeit über ihn hinweg und umnebelte seine Aufmerksamkeit.
    Wieso eigentlich nicht den Chef anrufen, dachte er.
    Nur so, um zu hören, was er sagt. Chicos rationale Seite konnte noch immer nicht glauben, dass sein Chef ein Mörder sein sollte. Sicher lag er um diese Zeit längst im Bett und ging nicht ans Telefon … Oder aber er war bereits in Villa Luganese und sagte: Zu spät, du Trottel, ich habe längst alles verbrannt.
    Bei der Einfahrt in den Tunnel unter dem Monte Ceneri wählte Chico schließlich seine Nummer.
    Es läutete einmal, zweimal, dreimal. Calgari hatte keine Mobilbox eingeschaltet. Es läutete das sechste, das siebte Mal. Chico grauste es, und er dachte: In diesem Moment schaut der Chef auf das Display. Und er meldet sich nicht. Und vielleicht sagt er sich: Wenn der kleine Malfanti seine Nase in Sachen steckt, die ihn nichts angehen, wird er ebenfalls zum Risikofaktor.
    Chico atmete tief durch. Tja. Jetzt bestand wohl keine Gefahr mehr, am Steuer einzuschlafen.
     
    Alles unter Kontrolle haben. Vielleicht ist einfach das der Schlüssel zum Glück. Ein vollgetanktes, gut geheiztes, gut ausgestattetes Auto. Und natürlich ein Ziel, eine Aufgabe, die erledigt werden muss. Rechtsanwalt Calgari war ein guter Fahrer, und er fühlte sich bereit zu handeln.
    Auf der linken Spur zog der Jeep an den wenigen Fahrzeugen vorbei, die außer ihm unterwegs waren. Calgari erkannte, dass er jahre-, nein: jahrzehntelang im Schatten der Angst gelebt hatte. Vor zwanzig Jahren war ihm das Wasser bis zum Hals gestanden, er hatte zwei Morde begehen müssen, um nicht verhaftet zu werden. Aber seither hatte er in einer anderen Art von Gefängnis gelebt.
    Desolina Fontana hatte er konsequent aus seinen Gedanken verdrängt. Er hatte alle Kontakte zu Finzi abgebrochen und übte seinen Beruf so vorbildlich aus, dass er seinem Stand alle Ehre machte. Aber selbst in den banalsten Handgriffen - wenn er Briefe an Mandanten unterschrieb, schwimmen ging, sich die Zähne putzte - spürte er etwas wie einen bösen Nachhall, eine Schattenzone, die kein Gedanke zu queren wagte.
    Jetzt endlich hatte er diese Zone betreten.
    Noch eine Nacht, dachte er, noch ein paar Stunden, und morgen früh ist alles vorbei, auf die eine oder andere Weise. Calgari war auf alles gefasst: Er fühlte sich wie ein zum Tode Verurteilter vor der Chance einer Begnadigung.

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