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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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es nicht wieder so wird wie früher.«
    »Wann früher?«
    »Wenn ich meine Unschuld beweisen kann, meine ich. Denn wenn das nicht gelingt …«
    »Denk so was gar nicht erst.«
    »Ja. Obacht!«
    Francesca schlitterte durch eine Haarnadelkurve.
    »Soll ich lieber fahren?«
    »Kein Problem!«, sagte sie würdevoll. »Das schaff ich schon.«
    Die Kantonstraße führte ins Gebirge hinauf. Aber das Auto war wie ein eigener, der Welt und der Zeit entrückter Raum. Inmitten des Schneegestöbers, an das schwache Licht der Scheinwerfer geklammert, musste es sich auf einer Straße vorankämpfen, die immer mehr einem Feldweg ähnelte. Sie hätten irgendwo auf der Welt sein können: Landschaftliche Merkmale gab es nicht mehr. Es gab nur noch sie beide, den Schnee vor den Fenstern und das Geräusch des Motors.
    »Was meinst du damit: es wird nicht mehr so wie früher?«, fragte sie nach einer Weile.
    Contini antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Diesmal weiß ich nicht, ob ich da wieder rauskomme. Es ist das erste Mal, dass …« Er stockte. Francesca sagte nichts. »Du findest das vielleicht komisch«, fuhr er fort, »aber es ist das erste Mal, dass ich mich wirklich allein fühle.«
    »Aha!«
    »Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich. Ist mir früher nie passiert. Und der Anblick der Leiche meines Vaters … Irgendwie ist mir klar geworden, dass ich diesmal nicht so glimpflich davonkomme. Irgendwie kommt mir jetzt alles sehr fragwürdig vor.«
    »Was alles?«
    »Meine Arbeit, meine Gewohnheiten, meine Lebensweise … alles. Wenn ich noch mal von vorn anfangen kann, werd ich kämpfen müssen, denn …«
    »Oh!«
    Francesca schaffte es, den Wagen rechtzeitig abzubremsen, um die Einfahrt in den Kreisverkehr nicht zu verpassen und zugleich den Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Räumfahrzeug zu vermeiden.
    »Uff …«, stieß sie hervor, während sie das Auto um die Kurve lenkte. »Das war knapp.«
    Contini wollte etwas sagen, überlegte es sich aber. Man musste jetzt wirklich nicht reden. Wichtig war, dass sie als Erste in Villa ankamen. Dort oben, im Haus Fontana, lagen Continis Zukunft, seine Freiheit, seine Hoffnung.
    Sie bogen nach links ab und überquerten die Brücke, die von Monte Carasso nach Giubiasco führt. Francesca hielt den Wagen auf der Mitte der Fahrbahn. Das Räumfahrzeug, das ihnen entgegengekommen war, hatte eine Spur gebahnt und einen meterhohen Wall am Straßenrand aufgetürmt. Aber es würde die ganze Nacht weiterschneien und die geräumte Spur wieder auffüllen, unaufhörlich, als sollte es bis in alle Ewigkeit so weitergehen...
    Auf der Höhe von Camorino, vor der Autobahnauffahrt Bellinzona-Süd, wartete eine Polizeistreife.
    »Was tun wir jetzt?«, fragte Francesca.
    »Umkehren können wir jedenfalls nicht«, sagte Contini. »Mach langsam …«
    Die roten und weißen Lichter erwarteten sie dort, wo sie das Ende der Straße vermuteten. Zum Wenden war so oder so nicht genügend Platz.
    »Und wenn sie uns nicht weiterfahren lassen?«, fragte Francesca.
    »Glaub ich nicht. Abraten werden sie uns.«
    »Und wir?«
    »Wir versichern, dass wir supervorsichtig sind, und fahren weiter.«
    Ein Polizist forderte sie auf, ein Stück weiter vorn, auf einem geräumten Platz anzuhalten, wo bereits ein Wagen stand.
    Francesca ließ die Scheibe herunter und lächelte den Beamten an: »Guten Abend! Schreckliches Wetter, oder?«
    »Guten Abend«, antwortete der Polizist, dessen Gesicht hinter dem hellen Licht seiner Lampe nur zu erahnen war. »Stellen Sie bitte den Motor ab.«
    Francesca gehorchte.
    »Führerschein und Fahrzeugausweis.«
    Francesca reichte ihm die Papiere. Der Polizist studierte den Fahrzeugausweis, dann beugte er sich zum Fenster hinunter, spähte ins Wageninnere und fragte Contini: »Und Sie sind Malaspina, Renzo?«
    »Nein«, antwortete er. »Das ist unser Freund, der uns das Auto geliehen hat.«
    Dass Francesca am Steuer saß, war ein Vorteil. Es gab keinen Grund, weshalb die Polizei den Beifahrer auffordern sollte, sich auszuweisen, und folglich sollte Contini unerkannt durchkommen können …
    Nur war dieser Polizist leider offensichtlich ein Pedant. Oder es war ihm langweilig. Oder er wollte sich dafür rächen, dass er an einem Abend wie diesem Dienst hatte. Tatsache war, dass er Contini fragte: »Und wie heißen Sie?«
     
    Hatte sich Chico Malfanti nicht immer nach Abenteuern gesehnt?
    Dann konnte er jetzt, am Steuer seines klapprigen Peugeot 206, mitten im schlimmsten Schneesturm,

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