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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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schneite. Die Laternen am Straßenrand beleuchteten ein unsicheres Gelände, einen in die Nacht gegrabenen Stollengang, gespenstisch einsam. Nur hin und wieder kam ihnen ein Räumfahrzeug entgegen. Sie fuhren schweigend dahin. Immer wieder vergewisserten sie sich, dass ihnen niemand folgte.
    Die Straße war leer. Contini löste Francesca am Steuer ab. Rechts und links von ihnen erstreckte sich eine flache weiße, gestaltlose Ebene, als wären sie in eine menschenleere Steppe geraten. Der Wind übertönte das Motorengeräusch. Die Straße führte bergauf, und Contini fuhr im zweiten Gang. Es ging den Monte Ceneri hinauf.
     

24
    Schneesturm auf dem Ceneri
    »Das war Contini.«
    »Sicher?«
    »Sicher«, sagte De Marchi. »Ein Streifenpolizist hat ihn von den Fotos in der Zeitung erkannt.«
    »Ah ja?«, schnaubte Rodoni. »Und wieso zum Teufel hat er ihn dann nicht aufgehalten, der Trottel?«
    Seine vom Schnupfen entstellte Stimme mit dem nasalen »Deufel« und »Droddel« verlieh dem Gespräch etwas Possenhaftes. Vielleicht war De Marchi allerdings auch zu erschöpft und nicht mehr fähig, dem Ernst der Lage angemessen zu reagieren.
    »Sie wollten ihn ja festnehmen, als sie ihn identifiziert hatten. Aber er ist ihnen entwischt.«
    »Entwischt! Das kann doch nicht wahr sein!«
    Endwischd. Das gann doch nichd …
    De Marchi grinste. Unfähig. Zu keiner angemessenen Ernsthaftigkeit in der Lage. Ich bin unfähig und steinmüde.
    »Tut mir leid. Diesmal waren sie wirklich nah dran.«
    »Schöner Trost!«
    De Marchi war noch im Büro, aber er hätte sich durchaus ein Nickerchen gönnen können: Man konnte im Moment sowieso nichts tun. Zu viel Schnee. Zu spät, um Schlüsse zu ziehen, zu verfolgen, zu suchen, sich zu entrüsten. Zu spät für alles. Nichtsdestoweniger war es ein unverzeihlicher Ausrutscher, Contini zu schnappen und gleich wieder laufen zu lassen. Aber es war nun mal passiert.
    »Was können wir jetzt noch tun?«, fragte Rodoni.
    De Marchi seufzte.
    »Ich habe leider keine Idee mehr. Contini ist auf der Kantonstraße geflüchtet. Wäre er auf der Autobahn, könnte man ihn rausholen, aber so … Wir wissen nicht mal, wo er hinwill. Francesca Besson war bei ihm, also sind sie vielleicht auf dem Weg nach Locarno, zu ihr.«
    »Können wir das nicht kontrollieren?«
    »Doch, natürlich. Ich habe schon jemanden losgeschickt. Auch Continis Büro und sein Haus werden überwacht, außerdem Pietro Villa.«
    »Und die Beamten, die Contini am Berg verloren haben?«
    »Die sind noch droben. Sie haben in einer Hütte Unterschlupf gefunden. Es hat zu viel Schnee, um mitten in der Nacht abzusteigen.«
    Der Staatsanwalt knurrte.
    »Dann müssen wir wohl bis morgen abwarten. Aber es werden sämtliche Orte überwacht, die Contini aufsuchen könnte, alle seine Bekannten. Okay?«
    »Okay«, sagte De Marchi und widerstand der Versuchung, »ogei« zu sagen.
    Nachdem Rodoni gegangen war, stellte der Kommissär seinen Wasserkocher an und machte sich einen Kräutertee. Scheißnacht, dachte er. Und noch lang nicht vorbei.
     
    Weltuntergangsabend.
    Es hätte der Abend vor dem Ende der Welt sein können. Am nächsten Tag würden sie alle für immer aus ihren Häusern ausziehen müssen, dann würde das Tal geflutet, und alle Erinnerungen wären versenkt.
    Was er damals gedacht und empfunden hatte, wusste Calgari kaum noch. Er war gerannt, um einen Brand zu löschen, dessen erste Funken er nicht beachtet hatte. Er erinnerte sich nur an das Gefühl äußerster Dringlichkeit, das ihn in diesen Tagen beherrschte, verbunden mit Scham und der Furcht, alles zu verlieren.
    Warum war Martignoni plötzlich ausgerastet? Reg dich wieder ab, hatte Calgari gesagt, wir sitzen doch alle im selben Boot. Nein, ich lass mir das nicht bieten, ich geh zur Polizei, ich zeig dich an … Calgari konnte es nicht mehr hören. Er, der Anwalt, sah alles sehr klar, er war in der Lage, die Situation mit allen Konsequenzen zu erfassen. Und dieser Expolizist mit seinem Sphinxgesicht, der nie eine Miene verzog: Warum hatte er Martignoni angespitzt, sich die Bücher vorzunehmen? Er war selber schuld. Aber was zählte das schon.
    Hier wollte Calgari von vorn anfangen. Ein klarer Schlussstrich, ein neuer Abschnitt und weiter mit einer leeren weißen Seite.
    Leider nein. Die weiße Seite wartete noch. Zwanzig Jahre danach. Aber dieser viele Schnee, dieses Unwetter schnitt ihn ab von der Vergangenheit und von der Zukunft. Zwanzig Jahre schrumpften auf diese paar Gesten

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