Am Grund des Sees
ersten Gang ein.
Irgendwann stieg die Straße weniger steil an. Contini war ganz aufs Fahren konzentriert, und obwohl seine Miene hart und reglos war wie immer, spürte Francesca, dass auch er beklommen war.
»So«, sagte er, als das Gelände endlich eben wurde, »jetzt sind wir oben.«
Auf der Kuppe des Hügels blies der Sturm doppelt so stark, im Scheinwerferlicht waren keine einzelnen Flocken mehr zu erkennen, sondern es war, als seien sie in den Strahl einer Schneekanone geraten. Der Wagen brach nach rechts aus, Contini lenkte ihn auf die Fahrbahn zurück, blieb aber mit den Vorderrädern in einer Furche stecken, und die Hinterreifen drehten durch.
Im nächsten Moment machte das Auto einen Satz auf die linke Straßenseite hinüber.
»Vorsicht!«, entfuhr es Francesca.
»Er reagiert nicht!«, rief Contini.
Das Auto schlitterte über die Fahrbahn und bohrte sich in den Schneewall am Straßenrand. Francesca riss es nach vorn, gleich darauf fiel sie in den Sitz zurück. Contini legte den Rückwärtsgang ein und steuerte den Wagen wieder in Fahrtrichtung; dann blieb er stehen und schaltete den Motor aus. »Grad noch mal gut gegangen«, sagte er.
»Mann«, stöhnte Francesca. »Stell dir vor, es wär uns jemand entgegengekommen.«
Contini nickte.
Francesca wartete, dass er weiterfuhr, aber er rührte sich nicht, wie verträumt saß er da und sah sie an. Sie spürte seinen Blick und drehte sich zu ihm. »Was ist?«, fragte sie.
Contini berührte mit dem Handrücken ihre linke Wange. Dann rückte er näher, beugte sich zu ihr. Francesca hielt den Atem an. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, küsste er sie. Sie war derart verblüfft, dass sie eine Weile brauchte, bis ihre Gedanken bei ihren Lippen angekommen waren. Aber da war er schon wieder zurückgewichen und murmelte: »Entschuldige.«
Er hatte nicht einmal den Sicherheitsgurt gelöst. Er ließ den Motor wieder an, und während sich Francesca noch wunderte, sagte er: »Wir müssen uns beeilen. Es ist noch ein ganzes Stück.«
Kommissär De Marchi dachte nicht daran, nach Hause zu fahren. Er blieb in seinem Büro sitzen, das nach Zigarrenrauch roch, starrte auf den Bildschirm - Nachrichten, Werbung, ein alter Film - und dachte über Pellanda, Vassalli, Porta, die immer schwarz gekleidete Desolina Fontana nach. Und wärmte sich die Hände an seinem Becher.
Chico Malfanti machte in diesem Augenblick die gegensätzliche Erfahrung: Stoßweise wich die Wärme aus seinen starren Fingern. Darf das wahr sein, fragte er sich, dass die Heizung ausgerechnet heute Nacht den Geist aufgibt? Er las das Ortsschild: Comano. Wie bin ich hierher gekommen? Er entdeckte einen einsamen Schneeschaufler und fragte ihn nach dem Weg. Ganz falsch, sagte der, Sie müssen Richtung Pregassona fahren. Chico wendete, und kurz vor Pregassona fing der Motor zu stottern an. Und Chico begriff mit kaltem Schrecken, dass er vergessen hatte zu tanken.
Ich muss mir schnell was einfallen lassen. Francesca wusste nicht, ob sie etwas sagen, mit Elia reden sollte, bevor sie in Villa waren. Dort würde das Urteil fallen: Rettung oder Untergang.
Man lernt einen Menschen schrittweise kennen, in kleinen Etappen, und wenn man alles über ihn zu wissen glaubt, passiert es, dass man plötzlich vor einem Rätsel steht und nicht weiß, wie man ihm begegnen soll, nicht mal, wohin den Blick wenden im dunklen Innenraum eines Wagens. Im Schneesturm fuhren sie den Monte Ceneri wieder hinunter, und keiner von ihnen sprach ein Wort. Wenn es Malfanti nur gelang, vor Calgari in Villa Luganese anzukommen. Immer wieder versuchte Contini, Signora Fontana zu erreichen, aber er hatte keine Mobilnummer von ihr, und bei ihr zu Hause hob niemand ab.
Das Haus war dunkel, als wäre es unbewohnt, Dach und Garten waren unter der Schneedecke verschwunden. Rechtsanwalt Calgari starrte eine Weile hinüber, ehe er ausstieg. Nach einer Weile meinte er trotz des dichten Schneetreibens im Licht der Straßenlaterne eine Gestalt zu erkennen, eine Person, die sich den Gartenweg entlangkämpfte. Ja, jetzt stand sie vor der Haustür. Es war eine Frau. Er sah sie einen Schirm abschütteln und schließen, ehe sie die Tür aufsperrte. Es musste Adele Fontana sein.
Und jetzt? Vergeblich sah er sich um - selbst wenn es hier eine Tankstelle gab, hätte er sie vermutlich übersehen: Bei diesem Schneegestöber konnte man sich glücklich schätzen, wenn man einen Meter weit
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