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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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Zweifel gekommen. Vielleicht ist es Unsinn, aber nachdem es schließlich um Mord geht, verstehen Sie …«
    »… haben Sie dem Schneesturm getrotzt und sind bis hier herauf gefahren.«
    Calgari nickte, und zum ersten Mal lächelte er. Es war ein argloses, beinahe jugendliches Lächeln. Aber natürlich ist ein arglos lächelnder Anwalt wie ein Boxer, der Topflappen häkelt: ein Widerspruch in sich. Adele war nicht von gestern. Sie betrachtete ihn mit einem Gesichtsausdruck, der besagte: Du willst mir, scheint’s, einen Bären aufbinden.
    »Und am Ende erwarten Sie noch, dass ich Sie um diese Uhrzeit hereinlasse …«
    »Ich möchte mich nur ganz kurz umsehen - fünf Minuten, und ich bin wieder weg.«
    Nervös war er, was freilich kein Wunder war. Und er log wie gedruckt - vielleicht war auch das kein Wunder. Was wollte er wirklich? Er hatte ihr in den Ausschnitt geschielt, das war ihr nicht entgangen. Aber man fährt doch nicht dafür in einem beispiellosen Schneesturm bis nach Villa herauf. Außerdem war sie den fünfzig näher als …
    Ach, genug!
    »Also, Herr Anwalt, wenn es wirklich so ungemein wichtig ist …«
    »Das ist es, das ist es, glauben Sie mir.«
    »Na, dann kommen Sie rein.«
    Zwei Minuten später saß er im Wohnzimmer, ein Gläschen Portwein in der Hand, neben ihm brannte die Stehlampe. Sie saß ihm in ihrem Bademantel im Halbdunkel auf dem Sofa gegenüber, die Füße kokett angezogen wie ein junges Mädchen. Sie fror etwas. Was für ein verrückter Abend, dachte sie.
    »So, dann erzählen Sie mir mal, was so fürchterlich wichtig ist.«
    Er geniert sich immer noch. Aber wieso geniert er sich so?
    In dem Moment, als er antworten wollte, läutete das Telefon.
    Sie hob ab. »Oh!«, wunderte sie sich. »Signor Contini! Um diese Uhrzeit …«
    Sie wechselte das Telefon vom linken zum rechten Ohr, warf dem Anwalt ein Lächeln zu, dann ging sie vom Wohnzimmer in die Küche und schloss mit dem Fuß die Tür hinter sich.
     
    Calgari hatte improvisiert. Natürlich rechnete er nicht damit, mitten in der Nacht das Haus einer Frau zu betreten, wie man ein Restaurant betritt. Aber das Letzte, was er erwartet hätte, war ein unbeholfener Verführungsversuch. Na gut, umso besser, Hauptsache, sie schöpfte keinen Verdacht.
    Dieser Name, der dann gefallen war, hatte allerdings die Wirkung einer kalten Dusche gehabt.
    »Oh! Signor Contini! Um diese Uhrzeit …«
    Das Gespräch setzte sich außerhalb seiner Hörweite fort, doch was dabei gesagt wurde, ließ sich leicht denken.
    Wie bei einer Schachpartie spielte er diverse Szenarien durch: Contini erzählte ihr eine Lüge (welche?) und riet ihr, seine Ankunft abzuwarten. Contini erzählte ihr alles, aber sie glaubte ihm nicht, legte einfach auf und kam lachend ins Wohnzimmer zurück. Contini erzählte ihr alles, und sie glaubte ihm und floh, oder sie holte rasch die Dokumente, um sie in Sicherheit zu bringen, oder sie packte ein Küchenmesser...
    Halt! Gehen wir vernünftig vor, okay?
    So oder so schien ihm Letzteres - sie glaubte ihm - zu diesem Zeitpunkt das Wahrscheinlichste, denn sein, Calgaris, nächtlicher Auftritt mitten im Schneesturm mit einer Handvoll hanebüchener Ausreden musste mehr als verdächtig wirken. Folglich sollte er schnell handeln. Die Dokumente waren hinter einem Gemälde im Arbeitszimmer versteckt. Und die Bewohnerin des Hauses befand sich in der Küche.
    In der Annahme, jenes Arbeitszimmer befinde sich im ersten Stock, schlich Calgari lautlos die Treppe hinauf.
     
    Schnee, nichts als Schnee, wenn man zum Küchenfenster hinausblickte. Adele Fontana konnte es sich nicht leisten, betrunken zu bleiben. Sie zog ihren Bademantel zusammen, band den Gürtel fester. Jetzt war ihr wirklich kalt.
    Auch sie war irgendwann zu der Überzeugung gelangt, der Mörder dieser vier Menschen sei Contini. Doch als sie jetzt seiner atemlosen Stimme zuhörte, als sie an die zwischen ihm und Desolina gewechselten Worte und Blicke dachte, wuchsen ihre Zweifel. Und als sie schließlich seiner Argumentation folgte und an die Verlegenheit des um Worte ringenden Anwalts dachte …
    Am Ende des Telefonats hatte sie keine Bedenken mehr. Sie empfand nur Scham, dass sie wie eine angetrunkene Irre auch noch geflirtet hatte mit diesem … diesem …
    Mein Gott. Allein im Haus, eingeschneit, in Gesellschaft eines Mörders. Was tut man normalerweise in dieser Lage? Man ruft die Polizei an. In diesem Fall ging das nicht, denn die Polizei würde ihr nicht glauben, die Polizei

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